VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Beschluss vom 06.08.2004 - 11 B 3121/04 - asyl.net: M5531
https://www.asyl.net/rsdb/M5531
Leitsatz:

Der besondere Schutz einer familiären Lebensgemeinschaft - insbesondere zwischen einem Ausländer und seinem minderjährigen deutschen Kind - kann die Erteilung einer zusätzlichen Duldung an einem Ausländer, dessen Aufenthalt andererorts beschränkt ist, für den Wohnort seiner Angehörigen gebieten.(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: D (A), Iraker, Duldung, Identitätstäuschung, Wohnsitzauflage, Räumliche Beschränkung, Schutz von Ehe und Familie, Familiäre Lebensgemeinschaft, Familienangehörige, deutsche Kinder, Zumutbarkeit, Zusätzliche Duldung, Ermessen, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Einstweilige Anordnung
Normen: VwGO § 123; AuslG § 55 Abs. 4; GG Art. 6; EMRK Art. 8
Auszüge:

Der Antragsteller hat auch mit der für eine (teilweise) Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen Wahrscheinlichkeit dargelegt, dass ihm eine durch einstweilige Anordnung zu sichernde Duldung gem. § 55 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 und 2 GG sowie Art. 8 EMRK zur Wahrung der familiären Lebensbeziehungen zu (insbesondere) seinem minderjährigen deutschen Kind und seiner religiös angetrauten deutschen Ehefrau zusteht. Die Erteilung einer zusätzlichen Duldung ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen, sie steht allerdings im Ermessen der zuständigen Ausländerbehörde und kommt nur aus zwingenden - etwa verfassungsrechtlichen - Gründen in Betracht (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 9. März 2004 2 ME 662/04 -, Urteil vom 27. Mai 2003 - 7 LB 207/02 -, Beschlüsse vom 17. Oktober 2002 - 8 ME 142/02 - AuAs 2002, 256 und Beschluss vom 12. Mai 2000 - 11 M 1263/00 -; zweifelnd: Thüringer OVG, Beschluss vom 2. Juli 2003 3 EO 166/03 - DÖV 2003, 909, 910). Hiervon ausgehend erweist sich die Versagung einer zusätzlichen Duldung in dem Bescheid des Antragsgegners vom 19. Mai 2004 wegen Ermessensfehlern als rechtswidrig. Unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände, insbesondere des besonderen Schutzes der familiären Lebensgemeinschaft eines Ausländers mit seinem minderjährigen deutschen Kind aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG sowie Art. 8 EMRK, verdichtet sich das dem Antragsgegner zustehende Ermessen dahin, dass sich lediglich die Erteilung der begehrten zusätzlich Duldung als rechtsfehlerfreie Entscheidung darstellt.

In der Rechtsprechung wird der besondere Schutz der Vater-Kind-Beziehung selbst für die Fälle eines nichtehelichen und getrennt lebenden minderjährigen Kindes betont, wenn sich eine hinreichende Ausübung des Sorgerechts feststellen lässt (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 22. Dezember 2003 - 2 BvR 2108/00 - NJW 2004, 606 und vom 30. Januar 2001 - 2 BvR 231/00 - InfAuslR 2002, 171; Nds. OVG, Beschlüsse vom 26. Mai 2004 -11 ME 70/04 - und vom 11. Dezember 2000 - 11 M 3943/00 - m.w.N.). Dabei ist u.a. zu berücksichtigen, dass gerade bei einem kleinen Kind die Entwicklung sehr schnell voranschreitet, so dass hier auch eine verhältnismäßig kurze Trennungszeit im Lichte von Art. 6 Abs. 2 GG schon unzumutbar lang sein kann (vgl. BVerfG , Beschluss vom 31. August 1999 - 2 BvR 1523/99 - InfAuslR 2000, 67, 69). Dementsprechend soll auch gem. Nr. 5.1 des Erlasses des Nds. MI vom 16. Oktober 2002 mit Rücksicht auf den Schutz von Ehe und Familie eine von allen Beteiligten gewünschte Herstellung der Lebensgemeinschaft enger Familienangehöriger (Ehegatten und minderjährige, unverheiratete - auch nichteheliche - Kinder) stets ermöglicht werden. Bei der Beurteilung der Frage, wo der künftige gemeinsame Wohnsitz genommen werden soll, ist nach Möglichkeit auf berechtigte Wünsche der Betroffenen Rücksicht zu nehmen.

Eine derartige schützenswerte familiäre Gemeinschaft zwischen dem (infolge der fortwirkenden asylverfahrensrechtlichen Wohnsitzauflage noch getrennt lebenden) Antragsteller und seinem etwas über einem Jahr alten Sohn ist durch die eidesstattliche Versicherung seiner religiös angetrauten Ehefrau, die Eheschließung nach religiösem Ritus, die bereits am 12. November 2002 vor Geburt des Kindes erfolgte Anerkennung der Vaterschaft und die bisher von den beteiligten Ausländerbehörden ermöglichten besuchsweisen Aufenthalte des Antragstellers in L. hinreichend glaubhaft gemacht.

Demgegenüber muss bei der Interessenabwägung der Umstand zurücktreten, dass der Antragsteller durch Vorlage eines - wie sich später herausstellte - gefälschten irakischen Personalausweises und durch (möglicherweise) falsche Angaben im Asylverfahren seine Identität verschleiert und seine Aufenthaltsbeendigung erschwert hat. Zwar sieht auch Nr. 6.2 des Erlasses vom 16. Oktober 2002 einen entsprechenden Versagungsgrund vor, allerdings nur, solange eine Aufenthaltsbeendigung ausschließlich aus solchen Gründen nicht möglich ist. Insofern wird verkannt, dass ein durch Vorlage gefälschter Dokumente und (möglicherweise) falsche Angaben verursachtes Abschiebungshindernis insbesondere durch die Geburt des minderjährigen Kindes überlagert wird, für das der Antragsteller hinreichende Sorge übernimmt.

Der Antragsgegner hat auch nicht hinreichend berücksichtigt, dass selbst in den Fällen, in denen die (ihm bekannt gewordene) Rechtsprechung zunächst unter ausländerrechtlichen Aspekten den Beteiligten zugemutet hatte, vorübergehend getrennt zu leben, eine zeitliche Grenze zu ziehen ist, nach der es unzumutbar wird, die Trennung der Familie länger aufrecht zu erhalten (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 9. März 2004 - 2 ME 662/04 - und Beschluss vom 17. Mai 2002 -12 ME 377/02 -).