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BVerwG, Urteil vom 16.07.2002 - 1 C 8.02 - asyl.net: M5582
https://www.asyl.net/rsdb/M5582
Leitsatz:

1. Eine Abschiebung, mit der die durch die Versagung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis entstandene Ausreisepflicht während des noch laufenden Rechtsmittelverfahrens vollzogen worden ist, kann eine Sperrwirkung nach § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG allenfalls dann entfalten, wenn die Versagung der Aufenthaltserlaubnis rechtmäßig gewesen ist.

2. Die Entscheidung des Gesetzgebers für einen besonderen Ausweisungsschutz für Minderjährige nach § 48 Abs. 2 Satz 1 AuslG, mit dem der Auftrag zum Schutz der Familie nach Art. 6 GG, Art. 8 EMRK konkretisiert wird, ist auch im Rahmen der nach § 21 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 17 Abs. 5 AuslG zu treffenden Ermessensentscheidung über die Versagung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zu beachten. Einem im Bundesgebiet geborenen und aufgewachsenen minderjährigen Ausländer, dessen Eltern sich hier erlaubt aufhalten, kann deshalb die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nur unter den ähnlich strengen Voraussetzungen versagt werden, wie sie für die Ausweisung Minderjähriger gelten.(Amtliche Leitsätze)

 

Schlagwörter: D (A), Türken, Minderjährige, Straftäter, Aufenthaltserlaubnis, Verlängerung, Versagung, Regelversagungsgründe, Besonderer Ausweisungsschutz, in Deutschland geborene Kinder, Eltern, Familiäre Lebensgemeinschaft, Schutz von Ehe und Familie, Heimunterbringung, Untersuchungshaft, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null, Abschiebung, Sperrwirkung, Entscheidungszeitpunkt, Rechtsweggarantie
Normen: AuslG § 8 Abs. 2 S. 2; AuslG § 17 Abs. 1; AuslG § 17 Abs. 5; AuslG § 21 Abs. 1; AuslG § 48 Abs. 2 S. 1; GG Art. 6; GG Art. 19 Abs. 4; EMRK Art. 8
Auszüge:

Zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung war die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für den Kläger nach § 21 Abs. 1 Satz 2 AuslG nicht bereits durch § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift wird einem Ausländer, der ausgewiesen oder abgeschoben worden ist, auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach diesem Gesetz keine Aufenthaltsgenehmigung erteilt. Diese sog. Sperrwirkung einer Ausweisung oder Abschiebung entfällt gemäß § 8 Abs. 2 Satz 3 AuslG erst durch Befristung seitens der Ausländerbehörde. Zwar ist der Kläger in Vollzug des Versagungsbescheides vom 24. Juli 1998 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. August 1998 während des Klageverfahrens in die Türkei abgeschoben worden. Diese Abschiebung hat aber nicht die Sperrwirkung nach § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG ausgelöst. Der Senat kann dabei offen lassen, ob § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG übrhaupt Anwendung findet, wenn der Ausländer mit seinem Rechtsbehelf in der Hauptsache die Erteilung derjenigen Aufenthaltsgenehmigung begehrt, deren Versagung die vollziehbare Ausreisepflicht begründet und zur Abschiebung geführt hat (vgl. Beschluss vom 4. Februar 1998 - BVerwG 1 B 9.98 - Buchholz 402.240 § 8 AuslG 1990 Nr.15). Denn auch wenn § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG in derartigen Fällen gelten würde, stünde dieser Versagungsgrund vorliegend der Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung nicht entgegen.

Wie der Senat bereits in dem vorgenannten Beschluss ausgeführt hat, kann die bloße Tatsache der Abschiebung nicht dazu führen, dass die gerichtliche Überprüfung der Gründe für die Versagung der Aufenthaltsgenehmigung entfällt. Dies folgt aus dem Gebot der Gewährung effektiven Rechtsschutzes in Art 19 Abs. 4 GG. Die Sperrwirkung des § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG greift danach nur dann ein, wenn die in Streit stehende Versagung der Aufenthaltsgenehmigung nach der im Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung bestehenden Sach- und Rechtslage rechtmäßig war und der Kläger deshalb seinerzeit auch zu Recht abgeschoben worden ist. Stand dem Kläger dagegen nach der damaligen Sach- und Rechtslage ein Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis zu, so war auch die Abschiebung mangels Ausreisepflicht des Klägers rechtswidrig und konnte deshalb nicht die Sperrwirkung des § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG auslösen. So liegt der Fall hier.

Dem Kläger hätte zum Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung am 7. August 1988 die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nicht versagt werden dürfen. Bei ihm lagen - wovon auch die Beklagte in den angefochtenen Bescheiden ausgegangen ist - seinerzeit die Voraussetzungen für eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 21 Abs. 1 Satz 2 AuslG i.V.m. § 17 Abs. 1 AuslG vor. Als minderjähriges, in Deutschland geborenes Kind (vgl. zum Erfordernis der Minderjährigkeit Urteil vom 22. Februar 1995 - BVerwG 1 C 11.94 - BVerwGE 98, 31, 47), dessen Mutter seit der Geburt eine Aufenthaltserlaubnis und seit 1990 eine Aufenthaltsberechtigung besaß, hatte er grundsätzlich einen Anspruch auf Verlängerung seines Aufenthaltsrechts nach § 21 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 AuslG, sofern der Aufenthalt der Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft mit der Mutter (und dem Vater) im Sinne von § 17 Abs. 1 AuslG diente. Dies war zum damaligen Zeitpunkt der Fall. Auch wenn der Kläger sich zwischenzeitlich vorübergehend in Heimen aufgehalten hatte und sich seit dem (...) in Untersuchungshaft befand, hatte er weiterhin seinen alleinigen Wohnsitz bei seinen Eltern, welche auch das Personensorgerecht für den damals (...) Kläger ausübten. Die vorübergehende erzwungene Abwesenheit des Klägers war unter den gegebenen Umständen nicht geeignet, das Fortbestehen einer familiären Lebensgemeinschaft in Frage zu stellen.

Dem daraus folgenden Anspruch des Klägers auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis stand entgegen der Ansicht der Beklagten auch nicht ein Versagungsgrund nach § 21 Abs. 1 Satz 2 AuslG i.V.m. § 17 Abs. 5 AuslG entgegen. Zwar lagen die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Versagung der Aufenthaltserlaubnis nach dieser Vorschrift vor, weil der Kläger mit seiner Straftat vom 3. Juli 1998 einen nicht nur geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen (vgl. § 46 Nr. AuslG) und damit einen Ausweisungsgrund im Sinne von § 17 Abs. 5 1. Alternative AuslG verwirklicht hat. Hierfür genügt nach ständiger Rechtsprechung des Senats das Vorliegen eines abstrakten Ausweisungstatbestandes im Sinne der §§ 45, 46 AuslG, ohne dass es darauf ankommt, ob der Ausländer im konkreten Fall auch rechtsfehlerfrei ausgewiesen werden könnte. In diesem Zusammenhang spielt der besondere Auweisungsschutz nach § 48 AuslG deshalb keine Rolle (vgl. etwa Beschluss vom 15. September 1995 - BVerwG 1 PKH 20.05 - Buchholz 402.240 § 24 AuslG 1990 Nr. 2 m.w.N.; vgl. auch Fränkel, Einführende Hinweise zum neuen Ausländergesetz, S. 125 ff.).

Die Beklagte hat das ihr nach § 21 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 17 Abs. 5 AuslG eröffnete Ermessen zur Versagung der Aufenthaltserlaubnis fehlerhaft ausgeübt, weil sie die in § 48 Abs. 2 Satz 1 AuslG getroffene gesetzgeberische Entscheidung zugunsten eines besonderen Schutzes minderjähriger Ausländer nicht beachtet hat. Nach dieser Vorschrift kann ein minderjähriger Ausländer, dessen Eltern sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, nur unter engen Voraussetzungen ausgewiesen werden, nämlich wenn er wegen serienmäßiger Begehung nicht unerheblicher vorsätzlicher Straftaten, wegen schwerer Straftaten oder einer besonders schweren Strafttat rechtskräftig verurteilt worden ist.

Die in § 48 Abs. 2 Satz 1 AuslG für die Aufenthaltsbeendigung durch Ausweisung getroffene Wertung zugunsten minderjähriger Ausländer ist bei der im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 21 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 17 Abs. 5 AuslG vorzunehmenden Abwägung der gegen den weiteren Aufenthalt eines im Bundesgebiet geborenen ausländischen Kindes sprechenden öffentlichen Interessen und der Interessen des Ausländers an der Aufrechterhaltung der familiären Lebensgemeinschaft als Leitlinie zu berücksichtigen. Denn mit dem Ausweisungsschutz für Minderjährige in § 48 Abs. 2 Satz 1 AuslG hat der Bundesgesetzgeber den verfassungrechtlichen Auftrag zum Schutz der Familie, insbesondere der Beziehung zwischen Eltern und ihren minderjährigen Kindern (Art. 6 GG, vgl. auch Art. 8 Europäische Konvention zu Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK -) konkretisiert (vgl. Urteil vom 28. Januar 1997 - BVerwG 1 C 17.94 - Buchholz 402.240 § 48 AuslG 1990 Nr. 10 und Urteil vom 19. November 1996 - BVerwG 1 C 25.94 - Buchholz 402.240 § 47 AuslG 1990 Nr. 11 unter Hinweis auf BTDrucks 11/6321 S. 74). Dabei trägt § 48 Abs. 2 Satz 1 AuslG auch dem Gesichtspunkt Rechnung, dass jugendliche Straftäter in der Regel im besonderen Maße auf den Familienschutz angewiesen sind, um in ein Leben ohne Straftaten zurückzufinden (vgl. Urteil vom 28. Januar 1997, a.a.O. S. 45 f.). In eine mit der Ausweisung vergleichbare Situation gelangt ein im Bundesgebiet geborenes minderjähriges Kind sich hier erlaubt aufhaltender Ausländer, wenn ihm das nach Maßgabe des § 21 Abs. 1 AuslG von Geburt an eingeräumte und grundsätzlich auf Dauer angelegte Aufenthaltsrecht versagt wird. Die Trennung eines solchen Minderjährigen von den Eltern im Falle einer Beendigung des Aufenthalts aufgrund einer Versagung der Aufenthaltserlaubnis würde sich praktisch in nahezu gleicher Weise auswirken. Auch unter Berücksichtigung des ebenfalls an Art. 6 GG orientierten Normzwecks des § 21 Abs. 1 AuslG, der der besonderen Schutzbedürftigkeit im Bundesgebiet geborener und aufgewachsener Ausländer Rechnung tragen soll (vgl. Igstadt in: GK-AuslR § 21 AuslG Rn 6; Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl., § 21 Rn 2), ist die in § 48 Abs. 2 Satz 1 AuslG getroffene Wertung bei der in Rede stehenden Ermessensentscheidung heranzuziehen. Schließlich kann nicht angenommen werden, dass der Gesetzgeber minderjährigen Ausländern bei Begehung von Straftaten allgemein (unabhängig von der Rechtmäßigkeit ihres Aufenthalts und dem Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft) einen derartig qualifizierten Schutz vor Ausweisung gewähren, zugleich aber bei besonders schutzwürdigen Minderjährigen im Sinne des § 21 Abs. 1 AuslG - in Kenntnis der Tatsache, dass sie bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres regelmäßig nur eine befristete Aufenthaltserlaubnis besitzen - die Aufenthaltsbeendigung durch Versagung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis auch bei Straftaten unterhalb dieser Schwelle zulassen wollte.