OLG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OLG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 10.08.2004 - 1 Ss 87/04 - asyl.net: M5607
https://www.asyl.net/rsdb/M5607
Leitsatz:

Kein strafbarer illegaler Aufenthalt bei Anspruch auf Duldung.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Ausländer, Strafrecht, Unerlaubter Aufenthalt, Duldung
Normen: AuslG § 92 Abs. 1 Nr. 1; AuslG § 55 Abs. 2
Auszüge:

Die getroffenen Feststellungen tragen die Verurteilung gemäß § 92 Abs. 1 Nr. 1 Ausländergesetz (AuslG) nicht.

Nach dieser Bestimmung wird bestraft, wer entgegen § 3 Abs. 1 Satz 1 AuslG sich ohne Aufenthaltsgenehmigung im Bundesgebiet aufhält und keine Duldung nach § 55 Abs. 1 AuslG besitzt.

Rechtsfehlerfrei hat das Landgericht allerdings angenommen, entgegen dem Wortlaut des Gesetzes mache sich generell nicht schon strafbar, wer sich im Bundesgebiet nicht nur ohne Aufenthaltsgenehmigung, sondern auch ohne die ansonsten erforderliche Duldung aufhalte. Vielmehr bleibe der Ausländer in diesem Fall bereits dann straflos, wenn die Behörde einer Verpflichtung zur Erteilung einer Duldung nicht oder zu spät nachkomme. Diese Auffassung steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 6.3.2003, InfAuslR 5/2003, 185 ff.). Danach dürfen die Strafgerichte bei der Prüfung einer Strafbarkeit nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG sich nicht mit der Feststellung begnügen, der Ausländer sei nicht im Besitz einer Duldung nach § 55 Abs. 2 AuslG. Die Duldung sei eine gesetzlich zwingende Reaktion auf ein vom Verschulden des Ausländers unabhängiges Abschiebungshindernis. Insofern diene § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG nicht der Strafbewehrung eines Verwaltungsakts und binde den Strafrichter nicht an die unterlassene oder verspätet getroffene Entscheidung einer Verwaltungsbehörde. Die Strafgerichte seien vielmehr von Verfassungswegen gehalten, selbständig zu prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer ausländerrechtlichen Duldung im Tatzeitraum gegeben gewesen seien. Kämen sie zu der Überzeugung, die Voraussetzungen hätten vorgelegen, scheide eine Strafbarkeit des Ausländers aus (BVerfG, InfAuslR 5/2003, 190).

Nach den Feststellungen des Landgerichts ist die Angeklagte zu 1) nach ihrer im Januar 2003 erfolgten Abschiebung nach Österreich erneut in die Bundesrepublik eingereist, wo dann am 30. Januar 2003 ihr Aufenthalt in der Wohnung des Angeklagten zu 2) festgestellt worden sei. Bis dahin habe sie sich nicht bei den Behörden gemeldet. Es könne danach keine Zweifel geben, dass sie sich nach illegaler Einreise jedenfalls am 30. Januar 2003 ohne Genehmigung im Bundesgebiet aufgehalten habe (UA S. 3). Der Umstand, dass die Angeklagte zu 1) sich derzeit aufgrund einer am 23. Oktober 2003 erteilten Duldung des Ausländeramtes, die inzwischen mehrfach verlängert worden sei, berechtigt im Bundesgebiet aufhalte, ändere nichts an der Strafbarkeit ihres Verhaltens. Denn die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG setze voraus, dass die Ausländerbehörde Kenntnis von dem unrechtmäßigen Aufenthalt des Ausländers habe. Daher komme es nicht darauf an, ob der Angeklagten zu 1) am 30. Januar 2003 bereits eine Duldung hätte erteilt werden müssen. Jedenfalls bis zur Kenntnis von ihrem Aufenthalt in Deutschland, also von der Einreise bis zum 30. Januar 2003, habe sie sich unerlaubt im Bundesgebiet aufgehalten.

Diese Auffassung begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Das Landgericht hält danach allein den Aufenthalt der Angeklagten zu 1) am 30. Januar 2003 und eventuell davor für strafwürdig. Es lässt unberücksichtigt, dass ihr am 23. Oktober 2003 eine Duldung erteilt und später mehrfach verlängert worden ist. Demnach hat auch in der Zeit davor, obwohl die zuständige Behörde seit dem 30. Januar 2003 Kenntnis von dem Aufenthalt der Angeklagten zu 1) hatte, ihre Abschiebung nicht durchgeführt werden können. War dem aber so, lagen die Voraussetzungen der Duldung nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor. Denn danach entspricht es der gesetzgeberischen Konzeption des Ausländergesetzes, einen vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer entweder unverzüglich abzuschieben oder ihn nach § 55 Abs. 2 AuslG zu dulden (BVerfG InfAuslR 5/2003,189). Dann kann es aber nicht darauf ankommen, dass die Behörden den Aufenthalt der Ausländerin erst am 30. Januar 2003 in Flensburg ermittelt hatten, sie sich folglich in der Zeit davor vom Zeitpunkt ihrer Einreise ins Bundesgebiet an hier ohne Kenntnis der Behörden aufgehalten hat - allein wegen dieses Zeitraums hat das Landgericht die Ausländerin hier nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG verurteilt -. Denn dabei wird verkannt, dass zwangsläufig in jedem Fall, in dem nach der Rechtsprechung auch des Bundesverfassungsgerichts die Duldungsvoraussetzungen nach

§ 55 Abs. 2 AuslG zu bejahen waren, ein mehr oder weniger langer Zeitraum verstrichen ist, in dem die Behörden von dem Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet keine Kenntnis hatten und auch haben konnten. Denn die Beurteilung der Frage, ob eine Duldung auszusprechen ist, stellt sich gerade nur dann, wenn ein Ausländer illegal und damit ohne Kenntnis der Behörden in das Bundesgebiet eingereist ist. In Konsequenz dessen hat das Bundesverfassungsgericht auch betont, dass, wenn die Voraussetzungen der unverzüglichen Abschiebung - wie offenbar auch hier - nicht gegeben sind, keine Konstellation vorstellbar ist, in der der Ausländer nicht einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung hätte (BVerfG, InfAuslR 5/2003, 189). Jedenfalls trifft dies auf die zur Tatzeit geltende Rechtslage zu.