VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 31.03.2004 - AN 15 K 02.32519 - asyl.net: M5609
https://www.asyl.net/rsdb/M5609
Leitsatz:

Keine Sicherung des Lebensunterhalts für alleinstehenden 16-Jährigen in Armenien, aber hinreichender Abschiebungsschutz durch bayerische Erlasslage; keine über die Regelungen des Grundgesetzes und des AsylVfG hinausgehenden Rechte für Minderjährige aus dem Haager Minderjährigenschutzabkommen oder dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Armenien, Unbegleitete Minderjährige, Gemischt-ethnische Abstammung, Aseris, Altersfeststellung, Fiktives Geburtsdatum, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Versorgungslage, Existenzminimum, Soziale Bindungen, Allgemeine Gefahr, Extreme Gefahrenlage, Erlasslage, Abschiebungsstopp, Haager Minderjährigenschutzabkommen, UN-Kinderrechtskonvention
Normen: AuslG § 53 Abs. 6; EU-Entschließung des Rates v. 26.06.1997 - 97/C221/03
Auszüge:

Die in Ziffer 3 des angefochtenen Bescheids getroffene FeststeIlung, dass Abschiebungshindernisse nach Armenien nicht bestünden ist (letztendlich) nicht zu beanstanden, weil die in Bayern herrschende Weisungslage (wie im Folgenden darzustellen sein wird) dafür sorgt, dass der Kläger als Minderjähriger nur dann in den Abschiebezielstaat Armenien verbracht werden darf, wenn dort für den Minderjährigen eine angemessene Aufnahme und Betreuung "gewährleistet" ist, ihm also keine Gefahren im Sinne des § 53 AuslG drohen.

Im Hinblick auf ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 AuslG gilt folgendes: Bei einer Rückkehr des gerade 16 Jahre alt gewordenen Klägers nach Armenien würde dieser eigentlich in existenzielle Not geraten, es entstünde eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben, weshalb § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG tatbestandlich vorliegt. Denn der gerade 16 Jahre alt gewordene Kläger besitzt kein Vermögen. Weiterhin kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Armenien in dem Umfang Arbeit bekommen würde, dass er seine Existenz sichern könnte. Abgesehen davon, dass er noch sehr jugendlich ist, hat er nicht nur keine Berufausbildung, sondern auch bislang keinen Schulabschluss.

Zu berücksichtigen ist weiter, dass in Armenien eine staatliche oder private Industrieproduktion kaum vorhanden ist und der Großteil der Armenier mehreren Erwerbstätigkeiten nachgehen muss (vgl. wiederum Lagebericht des Auswärtigen Amtes über Armenien vom 1.4.2003), um zu überleben. Erschwerend kommt im Falle des Klägers noch hinzu, dass er in Armenien über keinerlei Familienbande mehr verfügt, dass aber gerade durch die traditionellen Familienbande die in Armenien bestehenden Versorgungslücken und Schwierigkeiten weitgehend überwunden werden (vgl. Lagebericht a.a.O.). Der durch längere Auslandsaufenthalte mit den armenischen Verhältnissen nicht mehr so vertraute Kläger hätte daher Wettbewerbsnachteile, wenn er ohne familiäre Protektion versuchen müsste, entsprechende Jobs zu ergattern. Nach alledem kann bei der insgesamt schlechten Wirtschaftslage nicht davon ausgegangen werden, dass der knapp 16-jährige Kläger bei einer Rückkehr nach Armenien durch Vermögen oder Arbeit seinen Lebensunterhalt sichern könnte. Es kommt nämlich noch hinzu, dass er kein Dach über den Kopf hätte, da er in Armenien keine Person hat, die für ihn (mit-)sorgen würde (vgl. hierzu die Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung, wonach er Armenien überhaupt nicht verlassen hätte, wenn es eine solche Person gegeben hätte). Des Weiteren kann der Kläger nach der eindeutigen Auskunftslage auch keinen Unterschlupf in einem staatlichen Waisenhaus in Armenien finden, weil dort nur Kinder bis zum 16. Lebensjahr untergebracht werden (vgl. Botschaftsbericht der Deutschen Botschaft Jerewan vom 21. Mai 2002 an BAFI), der Kläger aber älter ist. Der Kläger könnte daher nur dann seine Grundbedürfnisse auf Nahrung und Wohnung erfüllen, wenn es ihm glücken würde, in ausreichendem Umfang bei humanitären und Nicht-Regierungsorganisationen laufend entsprechende Unterstützung zu bekommen. Nachdem solche Hilfsangebote jedoch in weiten Kreisen der Bevölkerung auf Grund mangelnder Initiative hinsichtlich entsprechender Informationsbeschaffung nicht bekannt sind (so Botschaftsbericht der Deutschen Botschaft Jerewan vom 21. Mai 2002 an BAFI) kann im Falle des nicht familiär unterstützten, armenischen Verhältnissen entwöhnten und knapp 16-jährigen Klägers nicht davon ausgegangen werden, dass er in der Lage ist, von sich aus diese Stellen zu finden und ein Überleben dadurch zu sichern.

Für den Kläger stellt sich mithin die Situation, in die er bei einer Abschiebung nach Armenien geraten würde, als lebensbedrohlich dar, wenn man ihn dorthin abschieben würde, ohne sicherzustellen, dass in Armenien entweder Personen oder Institutionen bereit stehen, die Willens und in der Lage sind, für ihn zu sorgen. Bei diesen geschilderten Gefahren für minderjährige, unbegleitete Flüchtlingskinder handelt es sich jedoch um eine Gruppengefahr. Gemäß § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG i. V.m. § 54 AuslG ist die Entscheidung hierüber den obersten Landesbehörden im Einvernehmen mit dem Bundesministerium des Innern vorbehalten. Diese Sperrwirkung ist auch durch die Gerichte zu beachten. Nur dann, wenn die Durchführung der Abschiebung den betroffenen Ausländer in eine extreme Gefahrensituation versetzen würde, sind die Gerichte in verfassungskonformer Auslegung des § 53 Abs. 6 AuslG befugt, ein Abschiebungshindernis im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG festzustellen. Diese Sperrwirkung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG ist nicht nur zu beachten, wenn ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG oder ein Abschiebestopperlass nach § 54 AuslG besteht, sondern auch dann, wenn eine andere ausländerrechtliche Erlasslage oder eine aus individuellen Gründen erteilte Duldung dem betroffenen Ausländer einen vergleichbar wirksamen Schutz vor Abschiebung vermitteln (BVerwG vom 12.7.2001, BVerwGE 114, 379 = NVwZ 2001, 1420 = DVBI 2001, 1531 = InfAuslR 2002, 48). Im Sinne dieser Rechtsprechung ist durch die ausländerrechtliche Erlasslage in Bayern sichergestellt, dass der Kläger bei einer etwaigen Abschiebung nach Armenien diesen Gefahren nicht ausgesetzt werden wird. Denn durch die Weisung des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 27. April 2000, IA 2-2086-10-3 (die Geltungsdauer dieses Rundschreibens wurde mit IMS vom 30.4.2003, IA 2-2086.10-3 bis 1.4.2006 verlängert), ist den Ausländerbehörden für den Vollzug des § 49 AuslG ausdrücklich vorgeschrieben, sich an die Entschließung des Rates der europäischen Union vom 26. Juni 1997 (97/C 221/03) zu halten. Danach müssen sich die Mitgliedsstaaten der europäischen Union im Hinblick auf die Zusammenführung mit der Familie so rasch wie möglich darum bemühen, die Familienangehörigen unbegleiteter Minderjähriger ausfindig zu machen oder deren Aufenthaltsort festzustellen. Ansonsten kann gemäß Art. 5 dieser Entschließung der betreffende Mitgliedsstaat einen Minderjährigen nur dann in sein Herkunftsland (hier Armenien) oder in ein aufnahmebereites Drittland zurückführen, wenn dort bei seiner Ankunft - gemäß den Bedürfnissen, die seinem Alter und dem von ihm erreichten Maß an Selbständigkeit entsprechen - eine angemessene Aufnahme und Betreuung gewährleistet sind. Dafür können die Eltern oder andere Erwachsene, die für das Kind sorgen, sowie die Regierungs- oder Nichtregierungsstellen einstehen. Solange eine Rückführung unter diesen Voraussetzungen nicht möglich ist, sollen die Mitgliedsstaaten den Minderjährigen den weiteren Aufenthalt in ihrem Hoheitsgebiet ermöglichen. Im Falle des Klägers bedeutet dies, dass nach einer Bezugsperson gesucht werden müsste, die eine entsprechende Aufnahme und Betreuung des Klägers in Armenien gewährleisten würde. Unter Berücksichtigung des klägerischen Sachvortrags kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass eine solche Person in Armenien existiert. In diesem Fall müssten dann die Ausländerbehörden sicherstellen, dass die angemessene Aufnahme und Betreuung, die nach der Auskunftslage offenbar nicht von staatlichen Stellen geleistet werden kann, anderweitig sicherzustellen, beispielsweise durch Unterbringung bei einer nichtstaatlichen Institution, die aber eine angemessene Aufnahme und Betreuung "gewährleisten" müsste. Was darunter im Einzelnen zu verstehen ist, richtet sich nach den Bedürfnissen des Klägers, seinem Alter und dem von ihm erreichten Maß an Selbständigkeit. Des Weiteren geht aus der Entschließung des Rates am 26. Juni 1997 eindeutig hervor, dass bei allen Maßnahmen die - wie hier - Kinder betreffen, das "Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt" ist "der vorrangig zu berücksichtigen ist (vgl. die Vorbemerkung der Entschließung des Rates vom 26.6.1997 betreffend unbegleitete, minderjährige Staatsangehörige dritter Länder, Amtsblatt der europäischen Gemeinschaften Nr. 97/C 221/23 (97-C 221-03)).

Es besteht keinerlei Anlass anzunehmen, dass die zuständige Ausländerbehörde abweichend von dieser Weisungslage verfahren würde. Damit aber ist sichergestellt, dass der Kläger nur dann nach Armenien abgeschoben werden kann, wenn begleitende Maßnahmen garantieren, dass der Kläger dort entsprechend betreut wird. Mithin ist sichergestellt, dass der Kläger nicht durch eine Abschiebung in eine ungewisse und ausweglose Lage gerät. Die Voraussetzungen des § 53 AuslG liegen daher beim Kläger nicht vor.