VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Urteil vom 08.06.2004 - 5 K 1744/01 - asyl.net: M5652
https://www.asyl.net/rsdb/M5652
Leitsatz:

Keine Leistungen nach § 2 AsylbLG für Minderheiten aus dem Kosovo, da lediglich tatsächliche Abschiebungshindernisse vorliegen; humanitäre Gründe bei Bürgerkriegsflüchtlingen setzen Nachteile voraus, die über das für Rückkehrer in ehemalige Bürgerkriegsgebiete gewöhnliche und zuzumutende Maß hinausgehen; dauerhafte Ausreise- und Abschiebungshindernisse können keine humanitären Gründe i.S.d. § 2 AsylbLG begründen.(Leitsatz der Redaktion)

 

Schlagwörter: D (A), Kosovo, Roma, Abgelehnte Asylbewerber, Asylbewerberleistungsgesetz, BSHG, Sozialhilfe, Humanitäre Gründe, Auslegung
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1
Auszüge:

Der Beklagte ist nicht verpflichtet, den Klägern für die Zeit von Juni 2001 bis Oktober 2001 Leistungen in besonderen Fällen zu bewilligen.

§ 2 Abs. 1 AsylbLG sieht vor, dass abweichend von den §§ 3 bis 7 das Bundessozialhilfegesetz auf Leistungsberechtigte entsprechend anzuwenden ist, die über eine Dauer von insgesamt 36 Monaten, frühestens beginnend am 1. Juni 1997, Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten haben, wenn die Ausreise nicht erfolgen kann und aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, weil humanitäre, rechtliche oder persönliche Gründe oder das öffentliche Interesse entgegenstehen. Diese Voraussetzungen liegen im Falle der Kläger nicht vor.

Diese Regelung ist so zu verstehen, dass humanitäre, rechtliche oder persönliche Gründe oder das öffentliche Interesse sowohl der Ausreise als auch aufenthaltsbeendenden Maßnahmen entgegenstehen müssen. Dies bedeutet mit anderen Worten: Nur wenn die Ausreise nicht erfolgen kann und wenn aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, weil humanitäre, rechtliche oder persönliche Gründe oder das öffentliche Interesse entgegenstehen, sind Leistungen in besonderen Fällen zu gewähren (BVerwG, Urteil vom 3. Juni 2003 - 5 C 32.02 -, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Buhdesverwaltungsgerichts, § 2 AsylbLGNr. 1 = FEVS 55,114 = NVwZ 2004, 491 = DVBl. 2004, 56 und OVG NRW, Urteil vom 10. Juli 2003 - 16 A 4808/01 - soweit ersichtlich nicht veröffentlicht). Dies trifft auf die Kläger nicht zu.

Im streitgegenständlichen Zeitraum von Juni 2001 bis Oktober 2001 konnte die Ausreise der Kläger in den Kosovo erfolgen, weil humanitäre Gründe nicht entgegengestanden haben.

Bei der Auslegung des Begriffs der humanitären Gründe im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG spricht schon der vom Gesetz gewählte Wortlaut dafür, dass dieses Tatbestandsmerkmal den Bestimmungen des Ausländergesetzes über die Erteilung einer Duldung nach § 55 AuslG entlehnt ist und daher nach dem Willen des Gesetzgebers auch durch die für die Bewilligung von Leistungen zuständige Behörde wie im Ausländergesetz auszulegen und anzuwenden ist (BVerwG, Urteil vom 3. Juni 2003 - 5 C 32.02 -, a. a. O. mit Nachweisen aus der Rechtsprechung und dem Schrifttum).

Systematisch ist bei der Auslegung weiterhin zu berücksichtigen, dass § 2 Abs. 1 AsylbLG eine Ausnahme von der Regel des § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG bildet, wonach leistungsberechtigt alle Ausländer sind, die sich im Bundesgebiet aufhalten und "eine Duldung nach § 55 Ausländergesetz besitzen". In der Regel soll dieser Personenkreis Grundleistungen nach § 3 AsylbLG erhalten. Nur wenn die zusätzlichen Voraussetzungen in § 2 Abs. 1 AsylbLG erfüllt sind, sollen ausnahmsweise Leistungen in besonderen Fällen gewährt werden (so ausdrücklich BVerwG, Urteil vom 3. Juni 2003 - 5 C 32. 02 -, a. a. O.). Daraus ergibt sich, dass die Voraussetzungen für die Bewilligung von Leistungen in besonderen Fällen eng auszulegen sind mit der Folge, dass nur bei qualifizierten Gründen, die vom Regelfall abweichen, für einen längeren Inlandsaufenthalt ein tatsächlich etwa bestehender höherer Integrations- und Angleichungsbedarf auch normativ durch Leistungen in entsprechender Anwendung des Bundessozialhilfegesetzes anzuerkennen ist (BVerwG, Urteil vom 3. Juni 2003 - 5 C 32.02 -, a. a. O.).

Eine Auslegung des Begriffs der humanitären Gründe nach den vorgenannten Maßstäben rechtfertigt sich auch nach Sinn und Zweck des Asylbewerberleistungsgesetzes. Die Zuordnung von Personen, die lediglich im Besitz einer Duldung sind, zum Personenkreis der nach dem Asylbewerberleistungsgesetz Leistungsberechtigten (§ 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG) rechtfertigt sich aus dem Umstand, dass diese Personen kein gesichertes Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet haben und lediglich ihre Abschiebung zeitweilig ausgesetzt wird.

Die ausländerrechtlichen Feststellungen zu den Gründen, aus denen eine Duldung erteilt bzw. versagt wird, entfalten zwar im leistungsrechtlichen Verfahren nach § 2 Abs. 1 AsylbLG mangels ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung keine Bindungswirkung, so dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 AsylbLG von der zuständigen Leistungsbehörde eigenständig zu prüfen sind (BVerwG, Urteil vom 3. Juni 2003 - 5 C 32.02 -, a. a. O. und OVG NRW, Beschluss vom 28. August 2000 - 16 E 137/98 -, abgedruckt im Gemeinschaftskommentar zum Asylbewerberleistungsgesetz - XII - zu § 2 Abs. 1, OVG Nr. 17). Dies ändert aber nichts daran, dass nach der eindeutigen Entscheidung des Gesetzgebers (§ 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG) zunächst an den ausländerrechtlichen Status einer Person anzuknüpfen ist, und bedeutet nicht, dass die in § 2 Abs. 1 genannten Gründe - hier: humanitäre Gründe - abweichend vom Ausländerrecht auszulegen sind. Die selbstständige Pflicht und Befugnis der Leistungsbehorde zur Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 2 Abs. 1 AsylbLG berechtigt diese nicht, bei einem lediglich Geduldeten, also ausreisepflichtigen Ausländer tatsächlich und abweichend vom ausländerrechtlichen Status von einem faktisch dauerhaften Bleiberecht auszugehen und damit eine vom Ausländerrecht unabhängige leistungsrechtliche Bewertung vorzunehmen. Die Grundentscheidung des Gesetzgebers, bei diesem Personenkreis von einem lediglich vorübergehenden Aufenthalt im Bundesgebiet auszugehen und ihm daher grundsätzlich nur die Regelleistungen der §§ 3, 4, 5 und 6 AsylbLG zu gewähren, für die auf die Bedürfnisse eines hier in aller Regel nur kurzen und vorübergehenden Aufenthaltes abzustellen ist (Bundestags-Drucksache 13/2746 S. 11), bleibt durch die in § 2 Abs. 1 AsylbLG getroffene Ausnahmeregelung unberührt.

Der Gesetzgeber ist im Rahmen der ihm zustehenden typisierenden Betrachtungsweise bei der Neufassung des § 2 Abs. 1 AsylbLG nicht allgemein davon ausgegangen, dass bei einem 36 Monate übersteigenden Bezug von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz unabhängig von dem ausländerrechtlichen Aufenthaltsstatus und den Gründen des zeitlich länger andauernden Inlandsaufenthaltes eine Aufenthaltsverfestigung mit entsprechendem höheren Integrationsbedarf unter Angleichung der zu gewährenden Leistungen an die Lebensverhältnisse im Bundesgebiet anzunehmen sei.

Auf dieser Grundlage kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass der Ausreise der Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum von Juni 2001 bis Oktober 2001 keine humanitären Gründe entgegengestanden haben. Als humanitäre Gründe im Sinne des Ausländerrechts sind Gründe anzusehen, die wegen ihrer Eigenart und ihres Gewichts die sofortige Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen als unmenschlich erscheinen lassen, wobei nicht jede menschliche Schwierigkeit oder Härte bereits das Gewicht eines "humanitären Grundes" erreicht (BVerwG, Urteil vom 3. Juni2003- 5 C 32.02-, a. a. O.; Renner, Ausländerrecht, 7. Auflage 1999, § 55 Randziffer 13; vgl. auch Funke-Kaiser in Gemeinschaftskommentar zum Ausländerrecht - Stand: Januar 2000 -, § 55 Randziffer 51 und Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, Stand: März 2004, § 55 Randziffer 56). Diese Voraussetzungen erfüllen die von den Klägern geltend gemachten Gründe nicht.

Ein humanitärer Grund ergibt sich nicht daraus, dass die Kläger im Kosovo nicht in ihre bisherige Heimatregion und ihre bisherige Wohnung zurückkehren können.

Auch der Umstand, dass die Kläger aus einer nach ihren Angaben inzwischen albanisch besetzten Region des Kosovo stammen und einer ethnischen Minderheit angehören, begründet keinen humanitären Grund im Sinne des § 55 Abs. 3 AuslG und zugleich im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG, denn zum einen teilen die Kläger, soweit sie sich in einem anderen Landesteil des Kosovo oder von Serbien- Montenegro niederlassen und eine neue Existenz gründen müssen, dieses Schicksal mit einer Vielzahl von Bürgerkriegsflüchtlingen, die von den Folgen des Bürgerkrieges in gleicher Weise betroffen sind. Zum anderen haben die Kläger selbst nicht substantiiert dargetan, dass es ihnen unmöglich wäre, in einem anderen Teil des Kosovo als ihrem bisherigen Wohnort oder in einem anderen Teil von Serbien-Montenegro eine neue Existenz aufzubauen (vgl. dazu ebenfalls den vorgenannten Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe).

Auch die mangelhaften bzw. fehlenden Sprachkenntnisse der Kläger zu 3. und 4. sind nicht als humanitärer Grund im Sinne der vorgenannten Bestimmungen anzusehen, der einer Ausreise entgegensteht. Es ist bei den Klägern vielmehr zuzumuten, sich mit Hilfe ihrer Eltern die Sprachkenntnisse anzueignen, die es ihnen ermöglichen, (wieder) im Kosovo zu leben.

Ein humanitärer Grund ist auch nicht darin zu sehen, dass der Kläger zu 1. seine inzwischen ebenfalls in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Eltern pflegen möchte; Gründe im Sinne des letzten Halbsatzes des § 2 Abs. 1 AsylbLG, die zugleich auch Gründe für die Erteilung einer Duldung sind, kommen nur dann in Betracht, wenn sie vorübergehender Natur sind, denn die Duldung, an die die Leistungen in besonderen Fällen anknüpft, soll nur zeitweise die Ausreiseverpflichtung des Betroffenen aussetzen. Deshalb scheiden Gründe für eine Duldung und damit auch für Leistungen in besonderen Fällen von vornherein aus, die auf Dauer einer Ausreise entgegenstehen (Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, a. a. O., § 55 Randziffer 58 und Funke-Kaiser, Gemeinschaftskommentar zum Ausländerrecht, a. a. O., § 55, Randziffer 44).