VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 27.08.2004 - 2 A 54/04 - asyl.net: M5657
https://www.asyl.net/rsdb/M5657
Leitsatz:

Widerruf von Flüchtlingsanerkennungen wegen Verfolgung durch Baath-Regime grundsätzlich möglich; kein Widerruf gem. § 73 Abs. 1 S. 3 AsylVfG der Flüchtlingsanerkennung eines führenden Oppositionellen, der seit 1991 zunächst in den Nordirak und von dort nach Deutschland geflohen ist, wegen Gefahr von Übergriffen durch Anhänger der Baath-Partei oder kurdischer Gruppen sowie wegen psychischer Erkrankungen. (Leitsatz der Redaktion)

 

Schlagwörter: Irak, Araber, Irakischer Nationalkongress, INC, Mitglieder, Kerbala-Aufstand, Asylanerkennung, Widerruf, Änderung der Sachlage, Politische Entwicklung, Fortbestehende Schutzbedürftigkeit, Situation bei Rückkehr, Verfolgung durch Dritte, Mittelbare Verfolgung, Übergriffe, Traumatisierte Flüchtlinge, Genfer Flüchtlingskonvention, Auslegung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1; AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 3; GFK Art. 1 C Nr. 5
Auszüge:

Der Bescheid der Beklagten vom 26. Januar 2004 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Allerdings sind die gesetzlichen Voraussetzungen für einen Widerruf der Rechtsstellung des Klägers wie sie mit Bescheid der Beklagten vom 15. August 2002 begründet worden ist nach § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG erfüllt.

Mit den veränderten politischen Gegebenheiten hat sich die Verfolgungssituation des Klägers von Grund auf geändert. Der - in der Vergangenheit in der überwiegenden Anzahl der asylrechtlichen Schicksale vorgenommenen - Anknüpfung an die Asylantragstellung und den langjährigen Auslandsaufenthalt ist mit dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein der Boden entzogen. Die - frühere - Verfolgungssituation gerade durch diese asylbegründenden Umstände ist vielmehr in ihr Gegenteil verkehrt worden. Die bei der Anhörung des Klägers zum Ausdruck gebrachte Gegnerschaft zum Regime Saddam Hussein würde den Kläger nunmehr eher gegenteilig sogar gerade zum Träger bzw. zum Freund der jetzigen und das aktuelle Tagesgeschehen bestimmenden politischen Kräfte machen.

Neuere Erkenntnisse bestätigen die Annahme, dass eine Rückkehr zu den alten Machtverhältnissen ausgeschlossen ist (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 24. Mai 2004, Stand: April 2004; Deutsches Orientinstitut, Stellungnahme an das VG Regensburg vom 27. Oktober 2003; Beschluss des OVG Greifswald vom 02.04.2004 -2 L 269/02-; Beschluss des VGH Baden-Württemberg vom 26.04.2004 -A 2 S 172/02-). Die aktuelle politische Entwicklung im Irak hält sich im Rahmen der o.a. politischen Zielvorgaben, beschleunigt den Übergang zu einem souveränen irakischen Staat gar, der nichts mehr mit dem Vorgängerregime gemein hat.

Dennoch ist der angefochtene Widerrufsbescheid rechtswidrig, denn seinem Erlass steht § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG entgegen. Danach ist von einem Widerruf abzusehen, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Dabei ist zu beachten, dass sich diese Gründe mit Gründen für ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 AuslG überschneiden können, dass sich die Tatbestandvoraussetzungen der Vorschriften jedoch so wesentlich voneinander unterscheiden, dass sich eine gesonderte Prüfung des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG auch dann nicht erübrigt, wenn ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 AuslG vorliegt (VGH Kassel, Beschluss vom 28.5.2003 -12 ZU 2805/02.A, InfAuslR 2003, 400, 401).

Gemessen an diesen Vorgaben, nimmt die Kammer im Fall des Klägers an, dass er sich auf zwingende Gründe berufen kann, die seiner Rückkehr in den Irak entgegenstehen.

Dies folgt zum einen aus dem vom Kläger erlittenen Verfolgungsschicksal, wie er es bei seiner Anhörung im Rahmen der mündlichen Verhandlung auch bei emotional angreifenden Schilderungen ausgesprochen sachlich, widerspruchsfrei und ohne zu übertreiben in Übereinstimmung mit den bisher aus den Akten gewonnenen Erkenntnissen wie auch in Einklang mit der Auskunftslage geschildert hat.

Danach gehörte der Kläger zum herausgehobenen Kreis der Oppositionellen im früheren Irak, der in den Wirrnissen der Zeit ab 1991 mehrfach nur durch Glück dem sicheren Tod entronnen ist. So war er nach seinem glaubhaften Vorbringen im Range eines "(...)das entspricht dem deutschen (...) (...) in (...) einer der militärischen Anführer des landesweiten Aufstandes gegen Saddam Hussein. Als dieser Aufstand ohne Intervention der Vereinigten Staaten mit brutaler Gewalt niedergedrückt wurde, war auf die Ergreifung des Klägers ein hohes Kopfgeld ausgesetzt worden. Es gelang ihm, sich in den Nordirak abzusetzen.

Als 1996 die KDP Massud Barsanis mit der irakischen Zentralregierung gemeinsame Sache machte, musste die Familie des Klägers, der bis dahin Mitglied des Militärausschusses des INC gewesen ist, erneut ohne jegliches Hab und Gut unter unmittelbar drohender Gefahr sowohl vor dem irakischen Regime wie auch vor denjenigen flüchten, die vermeintlich Schutz geboten hatten. Es dauerte nur drei Jahre, in denen die Familie im Einflussgebiet der PUK lebte, bis sie auch von hier vertrieben wurden.

Es kann in Anbetracht dieses Verfolgungsschicksals und der herausgehobenen oppositionellen Position des Klägers davon ausgegangen werden, dass er und seine Familie im Falle einer Rückkehr in den Irak Zielscheibe gewaltsamer Übergriffe der terroristisch agierenden ehemaligen Anhänger der Baath-Partei werden und auch die Kurden ihm als führendem Mitglied des INC nach wie vor nicht wohlgesonnen sein werden.

Es nimmt zum anderen in Anbetracht dieses Einzelschicksals nicht Wunder, dass insbesondere der Kläger und seine Ehefrau unter verschiedenen psychischen Erkrankungen leiden, wie sie im ärztlichen Attest des Dr. P. O. vom (...) bescheinigt werden. Auf eine genauere Attestierung der Ursachen für die Erkrankungen kann vorliegend verzichtet werden, weil dieser Zusammenhang offensichtlich ist. Der Kläger, seine Frau und auch die erwachsenen und heranwachsenden Kinder, die all das bewusst miterlebt haben, leiden unter den geschilderten Erlebnissen bis heute und haben eine sehr starke und nachvollziehbare Angst, erneut den ihnen gewährten Schutz zu verlieren und wieder in den Irak zurückkehren zu müssen.

Ein weiterer Gesichtspunkt, der die Rückkehr des Klägers in den Irak als unzumutbar erscheinen lässt kommt hinzu. Der Kläger ist am 27. November 2001 vom Hohen Flüchtlingskommissar als Flüchtling nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt worden. Selbst wenn eine derartige Anerkennung bindende Wirkung in den Konventionsstaaten nicht hat (vgl. dazu VG Freiburg, Urteil vom 07.05.2002 -A 7 K 10114/00-, zitiert nach juris), ist zu bedenken, dass der UNHCR derzeit noch große Bedenken gegen eine Rückführung von irakischen Flüchtlingen in ihr Heimatland hat (vgl. 3. überarbeitete UNHCR-Position zur Rückkehrgefährdung irakischer Schutzsuchender - März 2004 vom 1. März 2004). Dies bekräftigt die Annahme des Gerichts, dass die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG im Fall des Klägers und - dies sei hier ebenfalls erwähnt - seiner Frau vorliegen.