OVG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 16.06.2004 - 2 LB 54/03 - asyl.net: M5672
https://www.asyl.net/rsdb/M5672
Leitsatz:

In Afghanistan gibt es keine staatliche Herrschaftsmacht; zur Anwendung von § 73 Abs. 1 S. 3 AsylVfG.(Leitsatz der Redaktion)

 

Schlagwörter: Afghanistan, Jamiat-e-Islami, Mitglieder, Haft, Folter, Asylanerkennung, Widerruf, Politische Entwicklung, Machtwechsel, Gebietsgewalt, Übergangsregierung, Änderung der Sachlage, Fortbestehende Schutzbedürftigkeit, Sicherheitslage, Kausalzusammenhang
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1; AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 3; AuslG § 53 Abs. 6 S. 1; GFK Art. 1C Nr. 5
Auszüge:

Rechtsgrundlage für den angefochtenen Bescheid ist § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Danach sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Ein Widerruf ist danach insbesondere dann möglich, wenn die Gefahr politischer Verfolgung im Herkunftsstaat nicht mehr besteht. Das ist dann der Fall, wenn sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich entscheidungserheblich geändert haben (BVerwG, Urt. v. 19.09.2000 - 2 C 12.00 -, E 112, 80). Das ist zum gegenwärtigen, nach § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt in gleicher Weise der Fall wie bei der Entscheidung des Verwaltungsgerichts. Insoweit wird in dem angefochtenen Urteil zutreffend ausgeführt, dass die Voraussetzungen für eine Asylanerkennung und für eine Feststellung nach § 51 Abs. 1 AuslG nicht mehr vorliegen, weil eine effektive staatliche oder staatsähnliche Gewalt sich in Afghanistan nicht feststellen lasse. Das militärische Eingreifen der (internationalen) Anti-Terror-Allianz habe das Taliban-Regime in Afghanistan beseitigt. An die Stelle dieses Regimes sei noch keine - hinreichend stabile und gefestigte - staatliche oder staatsähnliche Struktur mit effektiver Gebietsgewalt getreten. Daran hat sich seither nichts geändert.

Ist danach zum gegenwärtigen Zeitpunkt und für den Fall einer Rückkehr des Klägers mit einer staatlichen Verfolgung nicht zu rechnen, steht dem Widerruf auch § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG nicht entgegen. Danach ist von einem Widerruf abzusehen, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

In Betracht kommen ausschließlich Gründe, die ihre Ursache in einer früheren Verfolgung haben. Damit soll der psychischen Sondersituation Rechnung getragen werden, in der sich ein Asylberechtigter befindet, der ein besonders schweres, nachhaltig wirkendes Verfolgungsschicksal erlitten hat und dem es deshalb selbst lange Jahre danach ungeachtet der veränderten Verhältnisse nicht zumutbar ist, in den früheren Verfolgerstaat zurückzukehren (VGH Baden-Württemberg, a.a.O.).

Es kommt somit auf die Zumutbarkeit der Rückkehr an, d.h. darauf, ob der nicht mehr Asylberechtigte gleichwohl mit beachtlichen Gründen eine Rückkehr in sein Herkunftsland ablehnen kann. Die Zumutbarkeit der Rückkehr setzt grundsätzlich voraus, dass ein Staat existiert, dessen Schutz der nicht mehr Asylberechtigte nunmehr wieder in Anspruch nehmen kann (VG Frankfurt/Main, Urt. v. 28.10.1999 - 5 E 30435/99.A -, AuAS 2000, 10, 12; Hailbronner, a.a.O., Rn 31). So spricht § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG von der "Rückkehr in den Staat", dessen Staatsangehörigkeit der Asylberechtigte besitzt. Dies entspricht auch dem Rechtsgedanken des Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 und 2 GFK. Dazu wird vertreten, dass bei der Beurteilung, ob eine ausreichende Änderung der Umstände vorliege, entscheidende Frage sei, ob der Flüchtling tatsächlich den Schutz seines Herkunftslandes in Anspruch nehmen könne. Ein solcher Schutz müsse daher wirksam und verfügbar sein. Erforderlich sei das Vorhandensein einer funktionierenden Regierung und grundlegender Verwaltungsstrukturen, wie sie z.B. in einem funktionierenden Rechtsstaat vorlägen, sowie das Vorhandensein einer angemessenen Infrastruktur, innerhalb derer die Einwohner ihre Rechte ausüben könnten, einschließlich ihres Rechtes auf eine Existenzgrundlage (UNHCR-Richtlinien zum Internationalen Schutz: Beendigung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des Art. 1 C (5) und (6) des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, NVwZ Beilage Nr. I 8/2003, S. 59). Diese Auslegung der Vorschrift beruht auf der Vorstellung, dass eine Person, die sich auf keinen staatlichen Schutz berufen kann, schutzlos ist (vgl. Schweizerische Asylrekurskommission, Urt. v. 05.07.2002, S. 21 f., GA 122). Diese Vorstellung trifft angesichts der von den Vereinten Nationen verschiedentlich getroffenen Kollektivmaßnahmen (Art. 1 Nr. 1, Art. 40 ff UN-Charta) in ihrer Allgemeinheit nicht mehr zu. Es gibt Beispiele dafür, dass durch internationale bzw. supranationale Maßnahmen eine umfassende Machtsubstitution vorgenommen und dadurch die nationalstaatliche Gewalt einschließlich ihrer Schutzfunktion ersetzt wird (vgl. Schweizerische Asylrekurskommission, a.a.O., S. 22). Dies ist etwa auf dem Gebiet der Bundesrepublik Jugoslawien bzw. Republik Serbien für die Provinz Kosovo angenommen worden.

Bei dieser Ausgangslage hat das Niedersächsische OVG die Voraussetzungen für einen Widerruf der Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG als gegeben angesehen (vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 16.03.2004 - 6 S 219/04 -, JURIS). Das Bundesverwaltungsgericht hat die Entscheidung bestätigt, ohne auf die hier interessierende Frage des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG einzugehen (BVerwG, Urt. v. 08.05.2003 - 1 C 15.02 -, EZAR 214 Nr. 15).

Auch das Verwaltungsgericht hat angenommen, dass der Widerruf nicht nach § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG unzulässig sei, wenn der "Wegfall" einer (früheren) Staatsgewalt in anderer Weise dergestalt kompensiert werde, dass keine Verfolgungs- oder sonstigen Gefahren für den Flüchtling in seinem Herkunftsland mehr bestünden. Eine Kompensation in diesem Sinne werde dadurch erreicht, dass durch eine internationale Friedenstruppe - wie sie vorliegend durch die ISAF-Präsenz vorhanden sei - eine (örtlich) begrenzte Sicherheit in einem Teilgebiet des Herkunftslandes (Raum Kabul) erreicht werde. Dem ist im Ergebnis nicht zu folgen.

Wie bereits ausgeführt, verfügt die übergangsweise eingesetzte Zentralregierung nicht über die notwendigen Machtmittel, um ihre Bürger in ausreichendem Maße zu schützen (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 17.02.2004 an OVG Bautzen sowie Lagebericht vom 22.04.2004). Anders als für den Kosovo angenommen wird dieses Vakuum staatlicher Macht nicht durch internationale Einsätze bzw. Organisationen kompensiert.

Besteht mithin im Herkunftsland des Klägers - selbst in der Region Kabul - weder eine effektive Staatsgewalt noch eine durch internationale Maßnahmen gewährleistete Friedensordnung, ist der Widerruf der Anerkennung als Asylberechtigter gleichwohl nicht durch § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG ausgeschlossen, weil es an der Kausalität zwischen der seinerzeit zur Asylanerkennung führenden Verfolgung und den für eine Rückkehr bedeutsamen Umständen fehlt. Wie der Kläger in seiner Anhörung durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge Anfang Dezember 1990 angegeben hat, wurde er vor seiner Ausreise von Mitarbeitern des Khad, also des Geheimdienstes der damaligen Regierung verhaftet und gefoltert, um Informationen über Kontaktpersonen aus der Organisation Jamiat-e-Islami zu erhalten. Die nach seiner Freilassung anzunehmende Gefahr staatlicher Verfolgung durch das kommunistische Regime unter Nadjibullah endete im April 1992 mit der Entmachtung des Staatspräsidenten. Im Widerrufsbescheid wird hierzu zutreffend ausgeführt, dass an die Stelle des Kampfes gegen die Kommunisten die mit äußerster Härte geführte militärische Auseinandersetzung der siegreichen Mudjaheddin-Gruppen um die Vormachtstellung im nachkommunistischen Afghanistan getreten und das Land in eine Vielzahl kleiner und kleinster Einzugsgebiete zersplittert sei. Seither hat sich die Lage in Afghanistan mehrfach verändert. Während zum Zeitpunkt des Widerrufs der Asylanerkennung der größte Teil des Landes von den sogenannten Taliban kontrolliert wurde und ein aus verschiedenen Mudjaheddin-Gruppen zeitweilig begründetes Zweckbündnis (sogenannte Nordallianz) nur noch im Norden des Landes Macht ausübte, ist das Taliban-Regime - wie ausgeführt - durch internationalen Militäreinsatz wieder beseitigt und nachfolgend eine aus rivalisierenden Fraktionen bestehende Übergangsregierung eingesetzt worden. Wie zum Zeitpunkt der Ausreise des Klägers drohen der afghanischen Bevölkerung gefahren durch Kämpfe und Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppierungen, doch ist nicht ersichtlich, dass der Kläger davon in besonderer Weise betroffen wäre. Insbesondere fehlt es an Anhaltspunkten für eine mögliche Anknüpfung an die Ereignisse, die seinerzeit zur Asylanerkennung und zur Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 AuslG führten. Dass die Anhänger des früheren kommunistischen Regimes und damaligen Mitarbeiter des Khad noch über Einfluss verfügten und frühere Regime-Gegner verfolgen könnten, ist bei Berücksichtigung der in die Verhandlung eingeführten Erkenntnismittel unwahrscheinlich. Nach alledem entfalten die seinerzeit für die Asylanerkennung sprechenden Gründe für den Fall der Rückkehr des Klägers keine Wirkung mehr.