OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 24.03.2004 - 3 L 95/01 - asyl.net: M5675
https://www.asyl.net/rsdb/M5675
Leitsatz:

Inländische Fluchtalternative vor Gruppenverfolgung für kurdische Volkszugehörige in der Westtürkei; sippenhaftähnliche Gefährdung nur von Angehörigen landesweit gesuchter Aktivisten einer militanten, staatsfeindlichen Organisation (Bestätigung der Rspr. des Senats).(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, PKK, Verdacht der Unterstützung, Haft, Folter, Glaubwürdigkeit, Gruppenverfolgung, Interne Fluchtalternative, Verfolgungssicherheit, Existenzminimum, Politische Entwicklung, Menschenrechtslage, Gesetz zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft, Amnestie, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Befragung, Sippenhaft, Abschiebungshindernis, Krankheit, Diabetes mellitus, Medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Yesil Kart, Grüne Karte
Normen: GG Art. 16a; AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53
Auszüge:

 

Der Kläger hat weder Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter noch auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG oder Abschiebungshindernisse gem. § 53 AuslG vorliegen.

Die kurdische Volkszugehörigkeit des Klägers allein vermag eine Anerkennung als Asylberechtigter nicht zu rechtfertigen. Es kann auf sich beruhen, ob die kurdische Bevölkerung im Südosten der Türkei staatlichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt ist oder war, die das Ausmaß einer Gruppenverfolgung erreichen. Für kurdische Volkszugehörige besteht grundsätzlich eine hinreichend sichere inländische Fluchtalternative im Bereich der westlichen Türkei, insbesondere in den Großstädten; sie sind deshalb nicht auf einen Schutz im Ausland angewiesen. In der Westtürkei sind kurdische Volkszugehörige hinreichend sicher vor unmittelbarer und mittelbarer politischer Verfolgung. Dort droht ihnen auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auf Dauer ein Leben unter dem Existenzminimum, das zu Hunger, Verelendung und schließlich zum Tod führt (vgl. grundlegend BVerfG, Beschl. v. 10.7. 1989, a. a. O., S. 342 ff.).

Vor politischer Verfolgung insbesondere in der Westtürkei nicht hinreichend sicher sind jedoch solche Personen aus der Südosttürkei, die im Zeitpunkt ihrer Ausreise aus der Türkei in diesem Landesteil einer regionalen politischen Individualverfolgung ausgesetzt waren, weil sie bei den Sicherheitskräften am Heimatort im Verdacht standen, mit der militanten kurdischen Bewegung zu sympathisieren. Ein solcher Verdacht der Vorbelastung ist anzunehmen, wenn der Kläger am Heimatort bereits Eingriffe von asylerheblicher Intensität erleiden musste oder von ihnen unmittelbar bedroht war, die seiner tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung dieser Bewegung gegolten haben und die Umstände darauf hinweisen, dass er den Sicherheitskräften als eine des Separatismus verdächtige Person individuell bekannt geworden ist. Der Verdacht muss sich aus hinreichend konkreten Anhaltspunkten ergeben und sich auf die Unterstützung gewalttätiger separatistischer Aktivitäten der PKK richten (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 8.5.2002 - 3 L 245/00 - und Urt. v. 29.4.1999 A 1 S 155/97 -; OVG Sachsen, Urt. v. 27.2.1997 - A 4 S 434/96 -). Denn bei einer solchen Person besteht die ernst zunehmende Möglichkeit, bei routinemäßigen Personenkontrollen, die auch in der Westtürkei vermehrt stattfinden, festgenommen und menschenrechtswidrig behandelt zu werden, nach dem Rückfragen bei einem von der zuständigen Polizeizentrale geführten Register oder bei den für den Heimatort zuständigen Stellen ergeben haben, dass es sich bei ihr um eine der Zusammenarbeit mit militanten staatsfeindlichen Gruppen verdächtige Person handelt (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 25.1.2000 - 8 A 1292/96.A -).

Derartige Verfolgungsgründe sind im vorliegenden Fall nicht gegeben. Der Kläger hatte, vor seiner Ausreise aus der Türkei nicht bereits Eingriffe von asylerheblicher Intensität zu erleiden und war auch nicht von asylerheblichen Maßnahmen unmittelbar bedroht. Die vom Kläger geschilderten kurzzeitigen Verhaftungen von ein bis zwei Tagen Dauer haben die Grenze der Asylerheblichkeit noch nicht überschritten. Hinreichend konkrete Anhaltspunkte für einen gegen ihn gerichteten Verdacht der türkischen Sicherheitskräfte hinsichtlich der Unterstützung gewalttätiger separatistischer Aktivitäten der PKK lagen ersichtlich nicht vor. Denn die Freilassungen aus der jeweils nur kurzfristigen Ingewahrsamnahme des Klägers durch die Polizei zeigen, dass sich etwaige anfängliche Vermutungen über eine Verwicklung in PKK-Aktivitäten nicht bestätigen ließen. Dementsprechend hatte der Kläger bei seiner Anhörung vor der Beklagten erklärt, man habe ihn immer nach kurzer Zeit wieder freigelassen, weil man "keinerlei Beweise" gegen ihn gehabt habe (Beiakte A, S. 27).

Soweit der Kläger in einem schriftlichen Statement dem Bundesamt gegenüber mitgeteilt hat, bei den kurzfristigen Festnahmen seien "verschiedene Foltermethoden eingesetzt" worden (BI. 20 der Beiakte "A"), hat er diesen Vortrag weder bei der Anhörung vor der Beklagten noch im Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht und auch nicht im Berufungsverfahren wiederholt oder vertieft. Auch sind die schriftsätzlichen Darlegungen des Klägers gegenüber der Beklagten zur erlittenen Folter so pauschal und unsubstantiiert, dass sie den Schluss, der Kläger schildere einen tatsächlich erlebten Sachverhalt, nicht zulassen. Darüber hinaus lässt sich nicht erklären, warum der Kläger eine solche Misshandlung weder bei der persönlichen Anhörung vor der Beklagten noch gegenüber dem Verwaltungsgericht oder dem erkennenden Senat wiederholt hat. Wäre der Kläger tatsächlich gefoltert worden, wäre zu erwarten gewesen, dass er seine diesbezüglichen Behauptungen auch im weiteren Verlauf des Asylverfahrens aufrechterhalten und vertieft hätte. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger infolge einer eingetretenen Traumatisierung bzw. aufgrund seiner Diabetes mellitus zu diesbezüglichen Ausführungen - ggf. schriftsätzlich - nicht in der Lage gewesen wäre, sind nicht ersichtlich. Der Senat hält die Behauptung des Klägers, er sei gefoltert worden, daher für unglaubhaft. Schließlich lässt auch die gegenwärtige innenpolitische Entwicklung in der Türkei nicht erkennen, dass der Kläger einer erhöhten Rückkehrgefährdung ausgesetzt ist. So haben die - aufgrund von Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - zunehmende Bedeutung der internationalen Öffentlichkeit und die dem angestrebten Beitritt der Türkei zur Europäischen Union geschuldeten Reformbestrebungen die innenpolitischen Verhältnisse beeinflusst (vgl. OVG NRW, Urt. v. 27.6.2002 - 8 A 4782/99.A -, S. 24 d. UA). In der Regierungserklärung des seit März 2003 als Ministerpräsidenten ernannten Vorsitzenden der konservativ, islamisch geprägten AKP (Gerechtigkeits- und Aufbaupartei) Erdogan wurde die Ausarbeitung einer neuen, freiheitlicheren Verfassung sowie die Erfüllung der Kopenhagener EU-Kriterien als erste Prioritäten anerkannt. Ein klares Bekenntnis zur Verbesserung der Menschenrechtslage und eine offene Diskussion der insoweit bestehenden Probleme unterscheidet die AKP von den Vorgängerregierungen. Nach dem Reformpaket vom 3. August 2002, das u. a. die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten enthielt und die Verwendung anderer in der Türkei gesprochener Sprachen als Türkisch in Unterricht, Rundfunk und Fernsehen erlaubte, folgten zwei weitere Reformpakete in der ersten Hälfte 2003. Diese enthielten insbesondere Regelungen zur Erschwerung von Parteischließungen und Politikverboten sowie Maßnahmen zur Verhütung, erleichterten Strafverfolgung und Bestrafung von Folter. Für eine zuverlässige Einschätzung, inwieweit die Reformen sich bereits in der Praxis ausgewirkt haben, ist es allerdings noch zu früh (vgl. zu Vorstehendem: Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12.8.2003, S. 7 ff.). Was die Konfrontation des türkischen Staates mit der PKK anlangt hat sich die Lage beruhigt. Die PKK ist weitestgehend militärisch besiegt und hat sich offiziell von Gewaltanwendung losgesagt. Sie hat sich auf ihrem 8. Parteikongress im April 2002 selbst aufgelöst. Gleichzeitig wurde eine neue Organisation namens KADEK ("Freiheits- und Demokratie-Kongress Kurdistan") gegründet, die sich selbst als legitime und einzige Nachfolgerin der PKK sieht (AA, Lagebericht vom 12.8.2003, S. 20 f.). Die türkische Regierung lehnt zwar weiterhin jeden Dialog mit der PKK oder KADEK als separatistische terroristische Organisation ab, sie hat aber mit Blick vor allem auf die PKK das "Gesetz zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft" vom 29. Juli 2003, in Kraft getreten am 6. August 2003, verabschiedet. Dieses gewährt Mitgliedern terroristischer Organisationen, die sich nicht an bewaffneten Auseinandersetzungen beteiligt haben und sich freiwillig stellen, Straffreiheit. Gleiches gilt für Personen, die ohne Mitglied zu sein, Anhänger verpflegt, untergebracht oder auf sonstige Weise unterstützt haben (allerdings nicht bei Unterstützung durch Waffen und Munition). Zwar sind die Bestimmungen zur Straffreiheit am 6. Februar 2004 wieder außer Kraft getreten. Doch hätten sich nach Angaben des türkischen Innenministers und nach Presseberichten mehrere hundert Personen direkt nach Inkrafttreten des Gesetzes bei den türkischen Sicherheitsbehörden gemeldet, um von dem Gesetz zu profitieren. Der Erfolg des Wiedereingliederungsgesetzes bleibe abzuwarten (AA, Lagebericht vom 12.8.2003, S. 22).

Eine asylerhebliche Gefährdung des Klägers ergibt sich auch nicht aus den Einreisekontrollen im Falle der Abschiebung. Die Gebiete der inländischen Fluchtalternative stehen dem Kläger auch bei einer erzwungenen Rückkehr offen. Wird der türkischen Grenzpolizei bekannt, dass es sich um eine abgeschobene Person handelt, wird diese einer Routinekontrolle unterzogen, die eine Abgleichung des Fahndungsregisters nach strafrechtlich relevanten Umständen und eine eingehende Befragung beinhaltet. Nur wenn der Abgeschobene nicht über gültige türkische Reisedokumente (auch nicht über vom zuständigen Konsulat ausgestellte Passersatzpapiere verfügt, wird der Betreffende in den Diensträumen der jeweiligen Polizeiwache zum Zwecke der Befragung festgehalten. Die Fragen der Vemehmungsbeamten beziehen sich regelmäßig auf Personalienfeststellung (Abgleich mit der Personenstandsbehörde und dem Fahndungsregister), Grund und Zeitpunkt der Ausreise aus der Türkei, Grund der Abschiebung, eventuelle Vorstrafen in Deutschland, AsylantragsteIlung und Kontakte zu illegalen türkischen Organisationen (OVG NRW, Urt. v. 27.6 2002 - 8 A 4782/99.A -, S. 89 f. UA; AA, Lagebericht v. 12.8.20Q3, S. 52). Schwierigkeiten für abgeschobene Personen können dann eintreten, wenn Befragung, Durchsuchung des Gepäcks oder Recherchen bei den Heimatbehörden den Verdacht der Mitgliedschaft in oder der Unterstützung der PKK oder anderer illegaler Organisationen begründen. Die Betreffenden werden dann den zuständigen Sicherheitsbehörden übergeben (AA, Lagebericht v. 12.8.2003, S. 53). Zu diesem gefährdeten Personenkreis gehört der Kläger - wie oben bereits ausgeführt - nicht.

Die Tatsache, dass der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland ein Asylverfahren betrieben hat, begründet für sich genommen ebenfalls keine asylerhebliche Gefahrenlage. Der Kläger ist auch bei Berücksichtigung der Aktivitäten seiner Verwandtschaft für die PKK in der Türkei vor politischer Verfolgung hinreichend sicher. Es reicht für die Annahme einer Verfolgungsgefahr nicht aus, wenn der Kläger vorträgt, dass die ganze Familie die PKK unterstützt haben soll. Diese Angabe lässt weder auf einen ausreichenden Tatvorwurf noch auf eine landesweite Suche schließen.

Eine Sippenhaftgefahr ergibt sich auch nicht, soweit der Kläger nähere Angaben zu den politischen Aktivitäten seiner Cousins oder seines Onkels und deren Verfolgungsschicksal gemacht hat. Die Sippenhaft unterliegt in persönlicher Hinsicht einer Einschränkung auf den Kreis der nahen Verwandten, zu denen lediglich die Eltern, Geschwister und - ab einem Alter von etwa 13 Jahren - die minderjährigen Kinder gehören (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, a. a. O., S. 80 m. w. N.).

Weder die Cousins noch der ohnehin schon verstorbene Onkel stehen in diesem verwandtschaftlichen Näheverhältnis zum Kläger. Sie sind deshalb keine geeigneten Personen zur Vermittlung einer Sippenhaftgefahr.

Es gibt auch keine Anhaltspunkte für eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit gern. § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG. Der Abschiebung des Klägers steht insbesondere nicht seine Erkrankung an diabetes mellitus entgegen. Durch das staatliche Gesundheitssystem in der Türkei ist eine medizinische Grundversorgung garantiert (AA, Lagebericht v. 24.7.2001, v. 20.3.2002 und v. 12.8.2003). Es ist deshalb nicht zu befürchten, dass das für die Behandlung benötigte Insulin nicht zur Verfügung steht. Medikamente sind in der Türkei meist erheblich preiswerter als in Deutschland. Soweit dennoch die finanziellen Mittel für eine erforderliche Behandlung nicht zur Verfügung stehen, ist darauf zu verweisen, dass sich Bedürftige von der Gesundheitsverwaltung eine "Grüne Karte" ("yesil kart") ausstellen lassen können, die zu kostenloser medizinischer Versorgung im staatlichen Gesundheitssystem berechtigt. In Fällen sofort erforderlicher Behandlung bei Mittellosigkeit und Vorliegen einer lebensgefährlichen Erkrankung werden in Fällen, in denen die "Grüne Karte" zwar beantragt, aber nicht ausgehändigt worden ist, die staatlichen Krankenhäuser Hilfe nicht verweigern. Nach Angaben der zuständigen Stellen soll es in der Türkei ca. 12-15 Mio. Inhaber einer "Grünen Karte" geben (AA, Lagebericht v. 12.8.2003).