VGH Bayern

Merkliste
Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 07.05.2004 - 9 B 01.31154 - asyl.net: M5678
https://www.asyl.net/rsdb/M5678
Leitsatz:

Armenischen Volkszugehörigen steht in Aserbaidschan mit Berg-Karabach eine interne Fluchtalternative offen. (Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Aserbaidschan, Armenier, Gemischt-ethnische Abstammung, Haft, Glaubwürdigkeit, Gruppenverfolgung, Verfolgungsprogramm, Mittelbare Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Interne Fluchtalternative, Berg-Karabach, Gebietsgewalt, Existenzminimum, Hilfsorganisationen, Sprachkenntnisse, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Abschiebungsandrohung, Zielstaatsbezeichnung, Reiseweg
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 4; AuslG § 53 Abs. 6; AuslG § 50 Abs. 2
Auszüge:

Die Berufung des Bundesbeauftragten ist begründet, denn die Kläger haben keinen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. Auch erweist sich die Feststellung des Bundesamtes, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG bei den Klägern nicht vorliegen, nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Senatsentscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) als zutreffend. Dementsprechend ist die Androhung der Abschiebung nach Aserbaidschan (hier die Region Berg-Karabach) nicht zu beanstanden.

Die Kläger waren vor der Ausreise aus Aserbaidschan keiner unmittelbar staatlichen Gruppenverfolgung ausgesetzt.

Anhaltspunkte für ein staatliches oder staatlich gelenktes Verfolgungsprogramm dergestalt, dass armenische Volkszugehörige oder Staatsbürger mit (zumindest teilweiser) armenischer Abstammung physisch vernichtet oder aus dem Staatsgebiet Aserbaidschans planmäßig vertrieben werden sollten, ergeben sich anhand des Erkenntnismaterials nicht.

Im Zeitpunkt der Ausreise aus Aserbaidschan waren die Kläger aber von einer mittelbaren Gruppenverfolgung aufgrund ihrer Abstammung von armenischen Elternteilen bedroht.

Entscheidend für die Gefährdung im Rahmen mittelbarer staatlicher Verfolgung war nach Auskunftslage nicht nur eine rein armenische Abstammung; es reichte vielmehr aus, wenn die Umgebung des Betroffenen von einer Abstammung von einem armenischen Volkszugehörigen Kenntnis erlangte. Kläger und Klägerin haben zwar gegenüber dem Bundesamt bei Stellung des Asylantrags am 8. Februar 2000 zur Niederschrift angegeben, sie seien beide Aserbaidschaner aserbaidschanischer Volkszugehörigkeit. Hinsichtlich der Abstammung von Müttern armenischen Volkstums bestehen wegen der Einträge in den am 1. August 1964 bzw. 9. Oktober 1975 ausgestellten Geburtsurkunden keine Zweifel. Der Senat hält die Geburtsurkunden beider Kläger auch für echt. Nach Aktenlage ist außerdem unstreitig, dass die Kläger die armenische Sprache nicht beherrschen; sie haben beide angegeben, dass im Elternhaus nur aserbaidschanisch gesprochen worden sei. Während des Bestehens der Sowjetunion haben sich in Aserbaidschan lebende Armenier sprachlich weitgehend assimiliert und waren daher zumeist nicht in der Lage, armenisch zu sprechen. Zahlreiche Abkömmlinge aus gemischt-ethnischen Verbindungen haben sich bedingt durch die politischen Verhältnisse wie hier der Kläger aufgrund des Wehrdienstes russische Sprachkenntnisse angeeignet. Es mag auch sein, dass an Schulen Kenntnisse der russischen Sprache vermittelt wurden. Mangelnde Kenntnis der armenischen Sprache war für Aserbaidschaner aber kein Grund, Personen teilweiser armenischer Abstammung nicht als Armenier zu betrachten. Auch hat es Fälle gegeben, in denen aserbaidschanische Staatsangehörige fälschlicherweise als Armenier denunziert wurden. Aus den früheren Auskünften und Lageberichten des Auswärtigen Amtes geht hervor, dass die Auseinandersetzungen zwischen den Bevölkerungsgruppen der Aserbaidschaner und der Armenier in der Folgezeit nach den Pogromen nicht beendet waren und zu offen gezeigter Feindseligkeit gegenüber der armenischen Minderheit geführt haben. In der von Hass und vielfältiger Benachteiligung geprägten Gesamtsituation bestand die Gefahr weiterer blutiger Gewaltaktionen. Angehörige der armenischen Volksgruppe lebten, soweit sie nicht die Flucht ins Ausland ergriffen hatten, in einem Klima der Furcht und des Schreckens. Sie sahen sich zahlreichen Demütigungen und Schikanen ausgesetzt.

Auf der Grundlage der ausgewerteten Stellungnahmen, Auskünfte und Berichte gelangt der Senat zu der Überzeugung, dass die gegen die armenischen Volkszugehörigen und aserbaidschanischen Staatsangehörigen gemischt ethnischer Abstammung gerichteten Sanktionen von der Intensität und Schwere her die Merkmale einer mittelbar staatlichen Verfolgung aufweisen.

Den Klägern stand zum Zeitpunkt der Ausreise aus Aserbaidschan eine inländische Fluchtalternative nicht zur Verfügung.

Weil die Kläger das Herkunftsland wegen mittelbarer Gruppenverfolgung verlassen haben, ist im Hinblick auf den Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG darauf abzustellen, ob sie im Falle der Rückkehr derzeit und in überschaubarer Zukunft von politischer Verfolgung hinreichend sicher sind (vgl. BVerfGE 80, 315; BVerwGE 51, 150 ff.; 110, 74). Der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist auch für Asylsuchende anzuwenden, die sich im Herkunftsland einer Gruppenverfolgung ausgesetzt sahen (vgl. BVerfGE 83, 216/231). Eine wesentliche Änderung der innenpolitischen Verhältnisse in Aserbaidschan, die den Zusammenhang zwischen Vorverfolgung und aktueller Bedrohung unterbrechen könnte (vgl. BVerwGE 104, 97), ist nach Auskunftslage nicht ersichtlich. Zwar belegen die beigezogenen Lageberichte und Auskünfte des Auswärtigen Amtes aus den Jahren 1999 bis 2003, dass eine gewisse graduelle Verbesserung der Situation der in Aserbaidschan verbliebenen armenischen Volkszugehörigen eingetreten ist. Der Lagebericht vom 9. Januar 2003 enthält andererseits nicht mehr die im Lagebericht vom 16. März 2000 noch enthaltene Aussage, dass Personen armenischer Abstammung keiner systematischen staatlichen Diskriminierung unterliegen. Dieser Personenkreis wird weiterhin de facto in vielfacher Hinsicht schlechter behandelt als andere Personengruppen.

Aus dem vom Rat der Europäischen Union herausgegebenen Bericht der Dänischen Delegation an CIREA vom 1. September 2000, der sich auf die Erkenntnisse zahlreicher Organisationen und sachkundiger Personen stützt, werden Schwierigkeiten erkennbar, die für Armenier bestehen, wenn sie ihre gesellschaftlichen Rechte gegenüber Behörden durchsetzen wollen. Auch ansonsten ergeben sich gewichtige Hinweise auf eine fortbestehende Lage, die von Diskriminierungen und Schikanen geprägt ist.

Im Falle der Rückkehr der Kläger ist ihnen in der Region Berg-Karabach eine inländische Fluchtalternative eröffnet.

Nach den beigezogenen Erkenntnisquellen (u.a. Lageberichte des Auswärtigen Amtes z.B. vom 9.1.2003) ist der Senat der Rechtsansicht, dass die Region Berg-Karabach völkerrechtlich Teil der Republik Aserbaidschan ist. Der Senat bejaht insoweit in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Thüringer Oberverwaltungsgerichts (a.a.O.) das Vorliegen der staatskonstituierenden Merkmale "Staatsgebiet" und "Staatsvolk", verneint aber eine - zumal auf Dauer angelegte - eigenständige Staatsgewalt im Sinne von Souveränität.

Die Kläger sind in Berg-Karabach vor politischer Verfolgung sicher (vgl. u.a. AA Lageberichte vom 29.1.2002 und vom 9.1.2003). Diese Sicherheit besteht, weil dem aserbaidschanischen Staat die Möglichkeit entzogen ist, auf die in Berg-Karabach lebende Bevölkerung Herrschaftsgewalt auszuüben. Anhaltspunkte dafür, dass sich die Situation alsbald zu Lasten der armenischen Bevölkerung etwa durch militärische Operationen verändern könnte, sind nicht ersichtlich.

Es wäre zwar grundsätzlich denkbar, dass die Kläger Anfeindungen aus dem gesellschaftlichen Umfeld ausgesetzt sein könnten (vgl. z.B. Stellungnahme von Frau Dr. Savvidis vom 7.5.2002 an den Bayer. Verwaltungsgerichtshof). Diese Anfeindungen würden aber nach Intensität und Schwere keine Rechtsgutbeeinträchtigungen von asylerheblicher Relevanz erreichen. Überdies könnten die Kläger Schutz der Behörden in Berg-Karabach in Anspruch nehmen (vgl. AA Auskunft vom 23.5.2002 an das VG Schleswig-Holstein).

Die Kläger können die Region Berg-Karabach in zumutbarer Weise freiwillig erreichen, sich dort niederlassen und auf Dauer aufhalten. Die Einreise nach Berg-Karabach ist über Armenien als Drittstaat möglich.

In der Region Berg-Karabach drohen den Klägern nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit andere Gefahren oder die Gefährdung des wirtschaftlichen Existenzminimums.

In den Lageberichten (vom 13.9.2000 und vom 16.3.2000) führt das Auswärtige Amt aus, für Flüchtlinge aus Aserbaidschan bestünden keine existentiellen Nöte. In der Stellungnahme vom 23. Mai 2002 an das Verwaltungsgericht Schleswig-Holstein äußert sich das Auswärtige Amt dahingehend, dass sich die Lebens- und Versorgungssituation in Berg-Karabach wesentlich verbessert und derjenigen in Armenien angeglichen habe. Es sei eine Vielzahl von humanitären Organisationen verschiedener Geberländer, unter anderem getragen von der armenischen Diaspora in den USA, tätig; diese würden zur Verbesserung der Lebens- und Versorgungssituation der Bevölkerung beitragen.

Die Deutsch-Armenische Gesellschaft äußerte sich in der Stellungnahme vom 3. August 2002 gegenüber dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof im wesentlichen dahingehend, dass zwar viele landwirtschaftliche Flächen minenverseucht und daher nicht nutzbar seien; Äcker- und Weideböden sowie Obst- und Weingärten seien weitgehend zerstört. Gleichwohl sei die Grundversorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln nach Aussage dieser Erkenntnisse gewährleistet (vgl. auch AA vom 23.5.2002 an VG Schleswig-Holstein). Gesamtwirtschaftlich ist eher mit einer Verbesserung der gegenwärtigen Situation zu rechnen.

Im Vergleich stellt sich die wirtschaftliche Lage der Flüchtlinge in Berg-Karabach besser dar als diejenige in Aserbaidschan.

Die mangelnden Kenntnisse der Kläger der armenischen Sprache (beide beherrschen die aserische Sprache und haben unterschiedlich ausgeprägte Kenntnisse des Russischen) stellen keinen Hinderungsgrund für die Einreise und die Aufenthaltsnahme in Berg-Karabach dar (vgl. AA vom 23.5.2002 an das VG Schleswig-Holstein). Der Kläger insbesondere kann sich mit dem Gebrauch der russischen Sprache, die in Berg-Karabach verstanden wird und die er aufgrund seiner Ausbildung im russischen Militär zumindest umgangssprachlich beherrscht, behelfen.

Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 1, 2 und 4 AuslG liegen nicht vor.

Die Androhung der Abschiebung der Kläger ist rechtmäßig.

Nach § 50 Abs. 2 AuslG soll in der Abschiebungsandrohung der Staat bezeichnet werden, in den der Ausländer abgeschoben werden soll, und der Ausländer soll darauf hingewiesen werden, dass er auch in einen anderen Staat abgeschoben werden kann, in den er ausreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist. Diese Vorschrift gebietet weder in den Fällen regionaler politischer Verfolgung noch bei nicht landesweit bestehenden Abschiebungshindernissen im Sinne von § 53 Abs. 1, 3 oder 4 AuslG, die Abschiebungsandrohung auf das sichere Teilgebiet des Abschiebestaates zu beschränken (BVerwGE 109, 353; 110, 74; 111, 343), denn § 50 Abs. 2 AuslG sieht keine Differenzierung zwischen sicheren und gefährlichen Landesteilen vor. Das Bundesverwaltungsgericht hat unter Hinweis auf den Wortlaut und die Entstehungsgeschichte des § 50 Abs. 2 AuslG keinen Anhaltspunkt gefunden, dass der Gesetzgeber im Falle regionaler Verfolgung oder Gefährdung des Ausländers das Bundesamt verpflichten wollte, bereits die von ihm zu erlassende Abschiebungsandrohung auf die sicheren Gebiete im Abschiebungszielstaat zu beschränken. Auch Sinn und Zweck der Abschiebungsandrohung erforderten dies nicht, denn sie sei Teil des Vollstreckungsverfahrens zur zwangsweisen Durchsetzung der Ausreisepflicht des Ausländers (vgl. im Einzelnen z.B. BVerwGE 110, 74/79 f). Als Ankündigung der staatlichen Zwangsmaßnahme und unter Berücksichtigung der Mahn- und Warnfunktion genüge die Bezeichnung des Abschiebungszielstaates "insgesamt" (vgl. BVerwGE 110, 74/80). Auch das Gebot effektiven Rechtsschutzes gebietet die Begrenzung der Abschiebungsandrohung auf das sichere Teilgebiet nicht. Das Bundesverwaltungsgericht vertritt aber die Auffassung, mit Blick auf den gebotenen Schutz des Ausländers möge es durchaus zweckmäßig sein, das nach Feststellung des Bundesamtes sichere Gebiet durch einen Hinweis im Entscheidungsausspruch klarstellend hervorzuheben, um so die Vollstreckungsbehörde auf diesen Umstand aufmerksam zu machen (BVerwGE 110, 74/80), ohne dass ein solcher Hinweis rechtlich geboten sei. Im Hinblick darauf, dass der Bescheid des Bundesamtes vom 19. April 2000 keine substantiierte Begründung für die Abschiebungsandrohung enthält, hält der Senat die Ergänzung des Textes durch den Klammerzusatz zur Klarstellung für die Vollstreckungsbehörde für angezeigt.