VGH Baden-Württemberg

Merkliste
Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2004 - 13 S 990/04 - asyl.net: M5686
https://www.asyl.net/rsdb/M5686
Leitsatz:

Abschiebungsschutz für Vater eines deutschen Kindes.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Duldung, Schutz von Ehe und Familie, Familienangehörige, Kinder, Deutsche Kinder, Nichteheliche Kinder, Vaterschaftsanerkennung, Gemeinsames Sorgerecht, Umgangsrecht, Familiäre Lebensgemeinschaft, Beistandsgemeinschaft, Betreuungsgemeinschaft, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Einstweilige Anordnung
Normen: VwGO § 123; AuslG § 55 Abs. 2; GG Art. 6; EMRK Art. 8 Abs. 1
Auszüge:

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts hat der Antragsteller auch einen Anordnungsanspruch i.S.v. § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft gemacht.

Als rechtliches Abschiebungshindernis in diesem Sinne kommen im vorliegenden Fall ausschließlich die Vorschriften des Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK in Betracht. Auf seine elterlichen Rechte und den Gedanken des Familienschutzes hat der Antragsteller seinen Antrag unter Bezugnahme auf seine im (...) geborene und wegen der deutschen Mutter die deutsche Staatsangehörigkeit besitzende (s. § 4 Abs. 1 S. 1 StAG) Tochter gestützt, und er hat sich auch in einer der Vorschrift des § 146 Abs. 4 S. 3 VwGO (noch) entsprechenden Weise mit den Ausführungen des Verwaltungsgerichts zum Fehlen einer Lebensgemeinschaft mit seiner Tochter auseinandergesetzt. Indem der Antragsteller in diesem Zusammenhang unter Beifügung einer eidesstattlichen Versicherung der deutschen Mutter darauf hingewiesen hat, es bestehe ein tatsächlich ausgeübtes Umgangsrecht mit seiner Tochter, diese habe eine sehr enge und innige Beziehung zu ihm als ihrem Vater, und er besuche die Kindesmutter und seine Tochter mindestens einmal, oft sogar zweimal in der Woche, hat der Antragsteller der Sache geltend gemacht, das Verwaltungsgericht überspanne die Anforderungen an einen aus den Familienschutzvorschriften abgeleiteten Abschiebungsschutz, wenn es das Bestehen einer gegenwärtigen familiären Lebensgemeinschaft mit Tochter und Mutter verlange.

Mit diesem Vortrag hat die Beschwerde des Antragstellers Erfolg; auch der Senat ist der Auffassung, dass der Antragsteller, der die Vaterschaft für das im September 1999 geborene Kind bereits vor der Geburt (03.05.1999) anerkannt und eine gemeinsame Sorgerechtserklärung mit der Mutter des Kindes abgegeben hat (15.02.2000), aus Rechtsgründen aller Voraussicht nach nicht abgeschoben werden darf.

Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass die Familienschutzvorschriften des Art. 6 GG bzw. des Art. 8 EMRK einen Anspruch auf Duldung nach § 55 Abs. 2 AuslG gewähren und damit einer Abschiebung entgegenstehen können. Zwar kommt in den Fällen, in denen Art. 6 Abs. 1 GG oder Art. 8 EMRK der Entfernung eines Ausländers aus dem Bundesgebiet entgegensteht und daher die Abschiebung aus rechtlichen Gründen unmöglich ist, in der Regel vorrangig die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis nach § 30 Abs. 3 AuslG an Stelle einer Duldung nach § 55 Abs. 2 AuslG in Betracht (siehe BVerwG, Urteil vom 04.06.1997 - 1 C 9.95 -, NVwZ 1997, S. 1114 und std. Rspr., siehe auch Senat, Beschluss vom 02.05.2000 - 13 S 2456/99 -, AuAS 2000, S. 158); vor Stellung eines Antrags auf Aufenthaltsbefugnis ist aber jedenfalls nach § 30 Abs. 4 AuslG der Besitz einer Duldung erforderlich, so dass der Ausländer zunächst darauf verwiesen ist, diese zu erstreiten. Für die Fälle des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 123 Abs. 1 VwGO ergibt sich die Vorrangigkeit einer Duldung als Rechtsschutzziel auch aus dem das Rechtsinstitut der einstweiligen Anordnung prägenden (grundsätzlichen) Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache; zunächst, d.h. bei bevorstehender Abschiebung, genügt dem Interesse des Antragstellers an der Wahrung seiner familienbezogenen Rechte die Einräumung einer entsprechenden Duldung.

In welchen Fällen Art. 6 Abs. 2 GG bzw. der insofern keinen weitergehenden Schutz vermittelnde Art. 8 EMRK (s. BVerwG, Urteil vom 09.12.1997 - 1 C 19.96 -, InfAuslR 1998, S. 213) ein rechtliches Abschiebungshindernis darstellt, ergibt sich aus der Gewichtung der familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten; die Behörden sind nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 09.12.1997 a.a.O. m.w.N.) und der des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschluss vom 21.05.2003, InfAuslR 2003, S.322, 323 m.w.N.) verpflichtet, bei der Anwendung offener Tatbestände und bei der Ermessensausübung diese Bindungen entsprechend ihrem Gewicht zur Geltung zu bringen.

Was den Antragsteller angeht, der die Vaterschaft anerkannt hat und gemeinsam mit der Mutter des Kindes das Sorgerecht ausübt (vgl. hierzu auch BVerfG, Beschluss vom 31.08.1999, NVwZ 2000, S. 59; Dietz, InfAuslR 1999, 177 und Kiehl, NVwZ 2000, S. 282), so dürfte er sich jedoch auf Abschiebungsschutz aus Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 EMRK berufen können.

Die Glaubhaftmachung eines entsprechenden Abschiebungshindernisses im Verfahren der einstweiligen Anordnung setzt zunächst voraus, dass die vom Bundesverfassungsgericht verlangte "sozial-familiäre Beziehung" besteht; es kommt, wie in der Literatur formuliert, in diesem Punkt "entscheidend auf die tatsächlich gelebte Verbundenheit der Familienmitglieder untereinander" an (Dietz a.a.O., S. 106; a.A. Roth a.a.O., S. 3160). Daraus folgt aber auch, dass eine familiäre Lebensgemeinschaft im Sinn der durch das Erstgericht vorgenommenen Subsumtion oder gar eine sog. Beistandsgemeinschaft wohl nicht mehr erforderlich sein dürfte, um entsprechenden Abschiebungsschutz zu begründen. Dies gilt jedenfalls für das vom Bundesverfassungsgericht entschiedene Rechtsverhältnis zwischen Vater und deutschem Kind. Es kommt hinzu, dass eine gemeinsame Sorgerechtsausübung vorliegt; ausländerrechtlich kommt dem Sorgerecht noch stärkerer Schutz zugute als dem Umgangsrecht (s. Dietz a.a.O. S. 106; s. auch Hess. VGH, Beschluss vom 22.05.2003, InfAuslR 2003, S. 274 m.w.N. Auch hier dürfte aber Voraussetzung sein, dass die Personensorge durch einen entsprechenden tatsächlichen Erziehungs- und Betreuungsbeitrag für das Kind tatsächlich wahrgenommen wird (s. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 05.08.2002, NVwZ-RR 2003, S.152).

Die Voraussetzungen einer sozial-familiären Beziehung im dargestellten Sinn - verbunden mit entsprechenden Betreuungsleistungen - hat der Antragsteller im vorliegenden Fall glaubhaft gemacht.