EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 23.03.2004 - Collins, C-138/02 - asyl.net: M5795
https://www.asyl.net/rsdb/M5795
Leitsatz:

Zum gemeinschaftsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff. (Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Gemeinschaftsrecht, Großbritannien (A), Arbeitssuche, Arbeitnehmer, Arbeitnehmerbegriff, Auslegung, Wanderarbeitnehmer, Voraufenthalte, Beihilfe, Arbeitssuchende, Gleichbehandlungsgrundsatz, Aufenthaltsrecht,
Normen: EWG-VO Nr. 1612/68; EWG-VO Nr. 2434/92; EG Art. 39 Abs. 2; RL 68/360/EWG
Auszüge:

Der Antragsteller macht geltend, dass er beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts aufgrund seiner Situation im Vereinigten Königreich als Person, die tatsächlich Arbeit suche, den Status eines "Arbeitnehmers" im Sinne der Verordnung Nr. 1612/68 habe und in den Anwendungsbereich von Artikel 7 Absatz 2 dieser Verordnung falle. Der Gerichtshof habe nämlich in Randnummer 32 des Urteils vom 12. Mai 1998 in der Rechtssache C-85/96 (Martinez Sala, Slg. 1998, I-2691) ausdrücklich die Regel aufgestellt, dass Arbeitsuchende als Arbeitnehmer im Sinne der Verordnung Nr. 1612/68 anzusehen seien, wenn das nationale Gericht davon überzeugt sei, dass der Betreffende zur maßgeblichen Zeit tatsächlich eine Arbeit gesucht habe.

Dagegen sind die Regierung des Vereinigten Königreichs und die deutsche Regierung sowie die Kommission der Europäischen Gemeinschaften der Ansicht, dass eine Person in der Situation von Herrn Collins kein Arbeitnehmer im Sinne der Verordnung Nr. 1612/68 sei.

Die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Kommission tragen vor, Herr Collins sei kein "ehemaliger" Wanderarbeitnehmer, der lediglich nach Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 eine Leistung in Anspruch nehmen wolle, da kein Zusammenhang zwischen der Arbeit bestehe, die er in den Jahren 1980 und 1981 ausgeübt habe, und der Arbeit, die er nach eigenen Angaben im Jahr 1998 suchte.

In seinem Urteil vom 18. Juni 1987 in der Rechtssache 316/85 (Lebon, Slg. 1987, 281, 1) habe der Gerichtshof entschieden, dass die in Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 verankerte Gleichbehandlung hinsichtlich der sozialen und steuerlichen Vergünstigungen nur für Arbeitnehmer gelte und dass Personen, die zuwanderten, um eine Beschäftigung zu suchen, diese Gleichbehandlung gemäß Artikel 48 EG-Vertrag sowie Artikel 2 und 5 der Verordnung Nr. 1612/68 nur in Bezug auf den Zugang zur Beschäftigung genössen.

Die deutsche Regierung erinnert an den speziellen Sachverhalt, der dem Urteil Martinez Sala zugrunde gelegen habe und der durch sehr enge und lang dauernde Verbindungen der Klägerin zum Aufnahmemitgliedstaat gekennzeichnet gewesen sei, während hier im Ausgangsverfahren offensichtlich kein Zusammenhang zwischen der früheren Beschäftigung von Herrn Collins und der Arbeit bestehe, die er suche.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes ist der Begriff des Arbeitnehmers im Sinne von Artikel 48 EG-Vertrag und der Verordnung Nr. 1612/68 ein Begriff des Gemeinschaftsrechts, der nicht eng auszulegen ist. Arbeitnehmer ist jeder, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht nach dieser Rechtsprechung darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält: (vgl. insbesondere Urteile vom 3. Ju1i 1986 in der Rechtssache 66/85, Lawrie-Blum, Slg. 1986, 2121, Randnrn. 16 und 17, Martinez Sala, Randnr. 32, und vom 8. Juni 1999 in der Rechtssache C-337/97, Meeusen, Slg. 1999, 1-3289, Randnr. 13).

Der Gerichtshof hat auch entschieden, dass bestimmte mit der Arbeitnehmereigenschaft zusammenhängende Rechte den Arbeitnehmern auch dann garantiert sind, wenn diese nicht mehr in einem Arbeitsverhältnis stehen (Urteile vom 24. September 1998 in der Rechtssache C-35/97, Kommission/Frankreich, Slg. 1998, 1-5325, Randnr. 41, und vom 6. November 2003 in der Rechtssache C-413/01, Ninni-Orasche, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 34).

Wie sich aus den Akten ergibt, die das vorlegende Gericht dem Gerichtshof übermittelt hat, arbeitete Herr Collins während eines sechsmonatigen/Aufenthalts im Vereinigten Königreich in den Jahren 1980 und 1981 gelegentlich in Bars und als Verkäufer. Selbst wenn solche beruflichen Tätigkeiten die in Randnummer 26 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen erfüllen und die Annahme zulassen sollten, dass er während dieses Aufenthalts die Eigenschaft eines Arbeitnehmers hatte, so bestünde doch kein Zusammenhang zwischen diesen Tätigkeiten und der Suche nach einer anderen Arbeit über 17 Jahre nach deren Beendigung.

In Ermangelung einer hinreichend engen Verbindung mit dem Arbeitsmarkt im Vereinigten Königreich ist die Situation von Herrn Collins im Jahr 1998 mit der jedes anderen Angehörigen eines Mitgliedstaats zu vergleichen, der eine erste Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat sucht.

In dieser Hinsicht ist daran zu erinnern, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofes zwischen Angehörigen der Mitgliedstaaten unterscheidet, die im Aufnahmemitgliedstaat, in dem sie eine Beschäftigung suchen, noch kein Arbeitsverhältnis eingegangen sind, und denen, die dort bereits arbeiten oder die dort gearbeitet haben, aber nicht mehr in einem Arbeitsverhältnis stehen und gleichwohl als Arbeitnehmer gelten (vgl. Urteil vom 21. Juni 1988 in der Rechtssache 39/86, Lair, Slg. 1988, 3161, Randnrn. 32 und 33).

Während nämlich für Angehörige der Mitgliedstaaten, die zuwandern, um eine Beschäftigung zu suchen, der Grundsatz der Gleichbehandlung nur für den Zugang zur Beschäftigung gilt, genießen diejenigen, die bereits Zugang zum Arbeitsmarkt gefunden haben, aufgrund von Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer (vgl. u. a. Urteile Lebon, Randnr. 26, und vom 12. September 1996 in der Rechtssache C-278/94, Kommission/Belgien, Slg. 1996, 1-4307, Randnrn. 39 und 40).

Der Begriff des "Arbeitnehmers" wird somit in der Verordnung Nr. 1612/68 nicht einheitlich gebraucht. Während er in Titel II des Ersten Teils ausschließlich die Personen erfasst, die bereits Zugang zum Arbeitsmarkt gefunden haben, ist der Begriff des "Arbeitnehmers" in anderen Teilen der Verordnung in einem weiteren Sinne zu verstehen.

Aus diesen Gründen ist auf die erste Frage zu antworten, dass eine Person in der Situation des Klägers des Ausgangsverfahrens kein Arbeitnehmer im Sinne von Titel II des Ersten Teils der Verordnung Nr. 1612/68 ist. Es ist jedoch Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob der im nationalen Recht verwendete Begriff des "Arbeitnehmers" in diesem Sinne zu verstehen ist.

1. Eine Person in der Situation des Klägers des Ausgangsverfahrens ist kein Arbeitnehmer im Sinne von Titel II des Ersten Teils der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2434/92 des Rates vom 27. Juli 1992 geänderten Fassung. Es ist jedoch Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob der im nationalen Recht verwendete Begriff des "Arbeitnehmers" in diesem Sinne zu verstehen ist.

2. Eine Person in der Situation des Klägers des Ausgangsverfahrens hat allein aufgrund der Richtlinie 68/360/EWG des Rates vom 15. Oktober 1968 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft kein Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich.

3. Der Anspruch auf Gleichbehandlung aus Artikel 48 Absatz 2 EG-Vetrag (jetzt Artikel 39 Absatz 2 EG) in Verbindung mit den Artikeln 6 EG-Vertrag (jetzt Artikel 12 EG) und 8 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 17 EG) steht einer nationalen Regelung nicht entgegen, die die Gewährung einer Beihilfe für Arbeitssuchende an ein Wohnorterfordernis knüpft, sofern dieses Erfordernis auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruht und in angemessenem Verhältnis zu dem Zweck steht, der mit den nationalen Rechtsvorschriften zulässigerweise verfolgt wird.