VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 20.09.2004 - 4 A 4121/02 - asyl.net: M5823
https://www.asyl.net/rsdb/M5823
Leitsatz:

1. Ein Asylantrag kann auch gegenüber der Ausländerbehörde zurückgenommen werden.

2. Die Anfechtung der Rücknahme des Asylantrages ist regelmäßig ausgeschlossen.

3. Der Ausländer trägt die Beweislast für seine Behauptung, die von ihm erklärte

Rücknahme des Asylantrages sei nichtig, weil er sich im Zeitpunkt der Abgabe der

Erklärung in einem Zustand vorübergehender Störung seiner Geistestätigkeit befunden habe.

4. Die Rücknahme des Asylantrages umfasst das Begehren als Asylberechtigter anerkannt zu werden und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 I AuslG vorliegen.

5. Hält der Ausländer seine Klage auf Anerkennung als Asylberechtigter sowie Verpflichtung zur Feststellung der Voraussetzungen nach § 51 I AuslG trotz wirksamer Rücknahme des Asylantrages aufrecht, fehlt das Rechtsschutzbedürfnis.

6. Trifft das BAFI keine Entscheidung nach § 32 AsylVfG einschließlich einer neuen

Entscheidung nach § 53 AuslG, bleibt die anhängige Klage auf Verpflichtung zur

Fsststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 AuslG auch im Falle der wirksamen Rücknahme des Asylantrages zulässig.

7. Zum Vorliegen eines krankheitsbedingten Abschiebungshindernisses nach § 53 VI 1 AuslG im Falle einer 66jährigen chronisch mehrfach erkrankten Analphabetin aus Tschetschenien ohne russische Sprachkenntnisse mit monatlichem Therapiekostenbedarf von 240 Euro.(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Russland, Tschetschenen, Klage, Rechtsschutzbedürfnis, Asylantrag, Rücknahme, Zuständigkeit, Ausländerbehörde, Widerruf, Anfechtung, Nichtigkeit, Vorübergehende Störung der Geistestätigkeit, Beweislast, Krankheit, Multiple Erkrankungen, Chronische Erkrankung, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit
Normen: GG Art. 16a; AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 4; AuslG § 53 Abs. 6 S. 1; AsylVfG § 32; BGB § 119; BGB § 130 Abs. 1 S. 2
Auszüge:

Hingegen ist der von der Klägerin gestellte Hilfsantrag begründet. Sie kann beanspruchen, dass vom Bundesamt in ihrem Fall ein krankheitsbedingtes Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG in Bezug auf die Russische Föderation festgestellt wird.

Es kann dahingestellt bleiben, ob sich die wirksame Rücknahmeerklärung der Klägerin vom 27. Januar 2004 im Hinblick auf ihre in diesem Zusammenhang ausdrücklich erklärte Ausreiseabsicht auch auf die Feststellung der Voraussetzungen nach § 53 AuslG bezogen hatte. Der Klägerin fehlt jedoch insoweit bereits deshalb nicht das Rechtsschutzbedürfnis, weil das Bundesamt gemäß § 32 AsylVfG verpflichtet ist, im Falle der Rücknahme des Asylantrages nicht nur festzustellen, dass das Asylverfahren eingestellt ist, sondern auch (erneut) festzustellen, ob Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen. Da eine Entscheidung des Bundesamtes nach § 32 AsylVfG auf die Antragsrücknahme vom 27. Januar 2004 nicht ergangen ist, kann sich die Klägerin - nach erfolgter Aufgabe ihrer Rückkehrabsicht in die Russische Föderation - weiter gegen die in dem ursprünglichen Bescheid vom 11. Juli.2002 enthaltene Feststellung wenden, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen.

Es besteht kein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 1 und 4 AuslG i.V.m. Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK -, weil keine ausreichenden Anzeichen dafür bestehen, dass sie in der Russischen Föderation landesweit mit Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung bedroht ist.

Hingegen ist nach der gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Erkenntnislage der letzten mündlichen Verhandlung die Verpflichtung des Bundesamtes auszusprechen, im Falle der Klägerin ein krankheitsbedingtes Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG bezogen auf die Russische Föderation festzustellen.

Die 66jährige Klägerin leidet nach dem Befundbericht ihres Hausarztes U. V. vom (...), der auch Gegenstand der Vernehmung des Arztes war, an einem (...). Der Hausarzt hat eine Fortsetzung der Behandlungsmaßnahmen für lebenswichtig erachtet und die Höhe der Tagestherapiekosten mit ca. 7 bis 8 € ohne Psychotherapie angegeben. Dies führt gegenwärtig zu einem monatlichen von der Allgemeinheit aufzubringenden Therapieaufwand von ca. 240,00 € für die Erhaltung der Gesundheit der chronisch kranken Klägerin. Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Klägerin bereits das Rentenalter erreicht hat, sie Analphabetin ist und ausschließlich die tschetschenlsche Sprache beherrscht, besteht zur Überzeugung des Gerichts die konkrete Gefahr, dass sie im Falle ihrer Abschiebung in die Russische Föderation nicht die unverzüglich notwendige medizinische Anschlussbehandlung und Medikamentenversorgung erhält. Nach dem Ad hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes über die Lage in Tschetschenien vom 16.2.2004 (508-516.80/3 RUS, S. 21) ist die medizinische Versorgung in Tschetschenien selbst völlig unzureichend. Durch die Zerstörungen und Kämpfe - besonders in der Hauptstadt J. - sind medizinische Einrichtungen in Tschetschenien weitgehend nicht mehr funktionstüchtig. Wichtige medizinische Einrichtungen in J. und Umgebung sind nach Augenzeugenberichten stark beschädigt oder zerstört. Der Wiederaufbau verläuft weiterhin sehr schleppend. Auf bestehende medizinische Versorgungsmöglichkeiten im russischen Kernland kann die 66jährige Klägerin als Analphabetin mit ausschließlich tschetschenischen Sprachkenntnissen in Anbetracht des monatlichen Therapieaufwands von gegenwärtig 240,00 Euro ausnahmsweise nicht verwiesen werden. Zwar ist die medizinische Grundversorgung nach dem aktuellen Lagebericht Russische Föderation des Auswärtigen Amtes vom 26.3.2004 (508-516.80/3 RUS, S. 18) in Russland theoretisch grundsätzlich ausreichend. Zumindest in Großstädten wie Moskau und St. Petersburg sind auch das Know-how und die technischen Möglichkeiten für einige anspruchsvollere Behandlungen gegeben. Allerdings ist medizinische Hilfe heute in Russland oftmals eine Kostenfrage. Die Zeiten der kostenlosen sowjetischen Gesundheitsfürsorge sind vorbei, eine beitragsfinanzierte medizinische Versorgung ist erst in Planung begriffen. Theoretisch hat jeder russische Bürger das Anrecht auf eine kostenfreie medizinische Grundversorgung, doch in der Praxis werden zumindest aufwändigere Behandlungen erst nach privater Bezahlung durchgeführt. Die Versorgung mit Medikamenten ist zumindest in den Großstädten gut, aber nicht kostenfrei. Neben russischen Produkten sind gegen entsprechende Bezahlung auch viele importierte Medikamente erhältlich. Das Gericht ist aufgrund der vorerwähnten besonderen Umstände in der Person der Klägerin sowie auch aufgrund des persönlichen Eindrucks von ihr in der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass sie bei einer Rückkehr in das russische Kernland gegenwärtig nicht in der Lage sein wird, ihr Existenzminimum zum Zwecke der Bezahlung notwendiger Therapie- und Medikamentenkosten selbst zu erwirtschaften. Auf einen in Russland zu realisierenden Unterhaltsanspruch gegen ihren Enkelsohn kann sie gegenwärtig nicht verwiesen werden, wenngleich dieser ausreisepflichtig ist und mit der Klägerin nach Russland zurückkehren könnte, weil der Aufenthalt des Enkels im Bundesgebiet gegenwärtig von der Ausländerbehörde geduldet wird. Deshalb ist die unverzügliche medizinische Weiterversorgung der chronisch kranken Klägerin in Russland zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht gesichert mit der Rechtsfolge, dass die Beklagte zu verpflichten ist, in ihrem Falle ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG bezogen auf die Russische Föderation festzustellen. In dieser Beurteilung sieht sich das Gericht durch den Umstand bestätigt, dass der Landkreis Q. ausweislich eines in den Verwaltungsvorgängen enthaltenen Vermerks auf eine Rückführung der Klägerin in ihr Heimatland bereits am 2. April 2002 auch nach Entlassung aus dem Krankenhaus O.-P. wegen ihres Gesundheitszustandes verzichtet hatte.