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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 - asyl.net: M5824
https://www.asyl.net/rsdb/M5824
Leitsatz:

1. Türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzen, dürfen nach den einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen nur noch auf der Grundlage einer ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung gemäß §§ 45, 46 AuslG ausgewiesen werden. § 47 AuslG scheidet als Rechtsgrundlage aus (Änderung der bisherigen Rechtsprechung).

2. Für die gerichtliche Überprüfung von Ausweisungen türkischer Staatsangehöriger, die nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigt sind, ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen (Änderung der bisherigen Rechtsprechung).

3. Liegen erhebliche neue Tatsachen vor, haben die Tatsachengerichte der Ausländerbehörde in gemeinschaftsrechtskonformer Anwendung von § 114 Satz 2 VwGO Gelegenheit zur Aktualisierung der Ermessensentscheidung zu geben (wie Urteil vom gleichen Tag im Verfahren BVerwG 1 C 30.02).

4. In allen zurzeit anhängigen und bis zum 31. Januar 2005 anhängig werdenden

Verwaltungsgsstreitverfahren von nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigten türkischer Staatsangehörigen, die im Wege einer Ist- oder Regelausweisung nach § 47 Abs. 1 AuslG ausgewiesen worden sind, ist den Ausländerbehörden mit Rücksicht auf die Änderung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch Gelegenheit zu geben, eine danach erforderliche Ermessensentscheidung nachzuholen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: D (A), Türken, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, Ausweisung, Straftäter, Drogendelikte, Freiheitsstrafe, Ist-Ausweisung, besonderer Ausweisungsschutz, Regelausweisung, Gemeinschaftsrecht, Ermessen, Ausländerbehörde, Nachholung, Spezialprävention, Wiederholungsgefahr, Verhältnismäßigkeit, Gefährdung der öffentlichen Ordnung, Beurteilungszeitpunkt
Normen: AuslG § 45; AuslG § 46; AuslG § 47 Abs. 1 Nr. 1; AuslG § 48 Abs. 1; AuslG § 47 Abs. 3 S. 1; ARB Nr. 1/80 Art. 6; ARB Nr. 1/80 Art. 7; ARB Nr. 1/80 Art. 14; VwGO § 86 Abs. 1; VwGO § 114 S. 2
Auszüge:

Die Entscheidung des Berufungsgerichts verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO).

Zu Unrecht hat es die Abweisung der Klage auch für den FaII bestätigt, dass sich der Kläger auf ein Aufenthaltsrecht nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei, über die Entwicklung der Assoziation - ARB 1/80- berufen kann. Dann nämlich wäre die Ausweisung an zusätzlichen - über die bisherige Rechtsprechung auch des Bundesverwaltungsgerichts hinausreichenden - Anforderungen des Gemeinschaftsrechts zu messen. Das Berufungsgericht hätte deshalb nicht offen lassen dürfen, ob dem Kläger ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht zusteht.

Da die Ausweisung im Übrigen nicht gegen innerstaatliches Recht verstößt, kann der Senat in der Sache nicht abschließend entscheiden. Das Berufungsurteil ist daher aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

Aufgrund der Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften - EuGH - vom 29. April 2004 (Rs. C-482/01 und C-493/01 - Orfanopoulos und Oliveri - DVBI 2004, 876) ist auch bei türkischen Staatsangehörigen, die sich auf ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 berufen können, von veränderten gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an eine Ausweisung auszugehen. Diese Entscheidung bezieht sich zwar auf freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger. Sie ist jedoch hinsichtlich ihrer materiellrechtlichen Grundsätze auf türkische Staatsangehörige zu übertragen, die ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzen.

Welche rechtlichen Folgerungen sich aus der genannten Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften für die Ausweisung freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger aus Deutschland ergeben und welche rechtlichen Maßstäbe nunmehr zugrunde zu legen sind, hat der Senat in seiner Entscheidung vom heutigen Tag, die einen portugiesischen Staatsangehörigen betrifft, im Einzelnen ausgeführt (Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 30.02 -, zur Veröffentlichung in der Entscheidupgssammlung des Bundesverwaltungsgerichts vorgesehen).

Die Entscheidung des Senats lässt sich dahin zusammenfassen, dass die in § 47 Abs. 1 und 2 AuslG geregelten Tatbestände einer zwingenden Ausweisung und einer Regelausweisung insoweit als Rechtsgrundlagen ausscheiden. Freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger dürfen nach den einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen nur aufgrund einer ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung nach §§ 45, 46 AuslG ausgewiesen werden. Erforderlich ist eine einzelfallbezogene Prüfung, die vom persönlichen Verhalten des Unionsbürgers ausgeht. Die dabei anzustellende Gefahrenprognose hat sich auf spezialpräventive Gesichtspunkte zu beschränken und darf sich nicht allein an einer strafgerichtlichen Verurteilung orientieren. Darüber hinaus hängt die Rechtmäßigkeit der Ausweisung eines Unionsbürgers davon ab, ob das öffentliche Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung im Sinne des Art 39 Abs. 3 EG das private Interesse des Unionsbürgers an seinem Verbleib im Bundesgebiet deutlich überwiegt.

Dem gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kommt besondere Bedeutung zu. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht. Die Tatsachengerichte sind demnach im Rahmen der ihnen nach § 86 Abs. 1 VwGO obliegenden Aufklärungspflicht gehalten, zu prüfen, ob die behördliche Gefahrenprognose und die Ermessensentscheidung bezogen auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Verhandlung im Ergebnis auf einer zutreffenden tatsächlichen Grundlage beruhen. Liegen erhebliche neue Tatsachen vor, so hat das Gericht der Ausländerbehörde in gemeinschaftsrechtskonformer Anwendung des § 114 Satz 2 VwGO Gelegenheit zur Anpassung ihrer Entscheidung und insbesondere auch zu aktuellen Ermessenerwägungen zu geben. Hinsichtlich er näheren Einzelheiten nimmt der Senat auf seine Entscheidung im Verfahren BVerwG 1 C 30.02 Bezug.

Diese für die Ausweisung von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern entwickelten Grundsätze sind auf die Ausweisung von türkischen Staatsangehörigen, die ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 besitzen, zu übertragen.

Das ergibt sich aus den nachfolgenden Erwägungen...