VG Stuttgart

Merkliste
Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 30.04.2004 - A 3 K 12874/03 - asyl.net: M5829
https://www.asyl.net/rsdb/M5829
Leitsatz:

§ 53 Abs. 4 AuslG für türkischen Staatsangehörigen, der ein hoher Funktionär der PKK bzw. deren Nachfolgeorganisationen war.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, PKK, Mitglieder, Haft, Folter, Strafverfolgung, Freiheitsstrafe, Abschiebungsschutz, Terrorismusvorbehalt, Asylausschluss, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Menschenrechtswidrige Behandlung, Foltergefahr, Exilpolitische Betätigung, HADEP, DEHAP, Überwachung im Aufnahmeland
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 51 Abs. 3; AuslG § 53 Abs. 4; EMRK Art. 3
Auszüge:

Der Kläger hat Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungshindernisses gem. § 53 Abs. 4 AuslG.

Im vorliegenden Fall kommt die Unzulässigkeit einer Abschiebung des Klägers aus der Anwendung des Art. 3 EMRK in Betracht. Danach darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.

Die Gefahr einer individuellen gezielten Misshandlung im Sinne des Art. 3 EMRK besteht nicht erst dann, wenn "ein eindeutiger Beweis" für eine zu erwartende Misshandlung des Betroffenen vorhanden ist. Andererseits genügt aber auch nicht allein die Feststellung, in dem Zielstaat der Abschiebung herrschten rechtsstaatswidrige oder ganz allgemein nachteilige politische oder wirtschaftliche Verhältnisse. Vielmehr muss es begründete Anhaltspunkte dafür geben, dass der betroffene Mensch im Zielstaat einem "echten", "tatsächlichen" bzw. "bedeutsamen Risiko“ von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen ist (vgl. EGMR, Urteil vom 7.7.1989 a.a.O.).

Nach diesen Maßstäben droht dem Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung durch die türkischen Sicherheitskräfte.

Auf der Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse (vgl. etwa Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 20.03.2002 und 12.8.2003; Schweizerische Flüchtlingshilfe zur aktuellen Situation in der Türkei, Juni 2003; Rumpf, 29.12.1997 an VG Augsburg, 12.01.1999 an VG Berlin und 12.04.1999 an VG Gelsenkirchen; Kaya, 02.07.1997 an VG Karlsruhe, 22.05.1999 an VG Gießen, 28.08.1999 an VG Kassel, 09.09.2000 an VG Sigmaringen und 28.12.2000 an VG Augsburg; Tellenbach, 18.07.1997 an VG Aachen und 02.02.1999 an VG Gelsenkirchen; Oberdiek, 29.10.1999 an VG Ansbach) ist davon auszugehen, dass die türkischen Sicherheitsbehörden grundsätzlich an allen separatistischen und anderen als staatsgefährdend bewerteten Aktivitäten sowohl in der Türkei als auch in der Bundesrepublik Deutschland interessiert sind.

Zwar sind bezüglich der Menschenrechtslage (zur Lage in der Vergangenheit vgl. Rumpf, 1.05.1994 an VG Aachen; Oberdiek, 17.02.1997 an VG Hamburg) in den letzten Jahren durch Gesetzes- und Verfassungsänderungen sowie andere Reformmaßnahmen Fortschritte erzielt worden, die insbesondere die Rechte Inhaftierter stärken und der Eindämmung der Folter dienen.

Allerdings bestehen in der Menschenrechtspraxis auch nach Auffassung des Auswärtigen Amtes weiterhin erhebliche Defizite. Nach wie vor berichten Menschenrechtsorganisationen über Fälle von Misshandlungen, wobei es offenbar zunehmend Misshandlungen gibt, die keine sichtbaren Spuren hinterlassen (z.B. Elektroschocks, Abspritzen mit kaltem Wasser mittels Hochdruckgeräten, Augen verbinden bei Befragungen, erzwungenes Ausziehen, Schlafentzug, Androhung von Vergewaltigung, sexuelle Misshandlung; vgl. AA, Lagebericht vom 12.8.2003; Schweizerische Flüchtlingshilfe zur aktuelIen Situation in der Türkei, Juni 2003).

Der Kläger gehört zu dem oben beschriebenen gefährdeten Personenkreis. Das Gericht hat keinen Zweifel daran, dass es sich beim Kläger um einen exponierten Vertreter des kurdischen Separatismus handelt. Er verbüßte als Angehöriger der PKK-Gründergeneration zwischen (...) eine langjährige Haftstrafe. Durch seine schon während der Haft betriebene, im Exil weiter ausgebaute journalistische und politische Betätigung hat der Kläger in der kurdischen Szene einen erheblichen Bekanntheitsgrad erreicht. Das kann den türkischen Stellen nicht verborgen geblieben sein, zumal der Kläger im Bundesgebiet als (...) der seit dem 13.3.2003 wegen PKK-Verbindungen verbotenen HADEP bzw. der Nachfolgeorganisation DEHAP auftritt. Durch seine Aktivitäten im Bundesgebiet dürfte der Kläger gegen das im Zusammenhang mit der Strafaussetzung zur Bewährung verhängte politische Betätigungsverbot verstoßen haben. In Anbetracht dieser Umstände muss davon ausgegangen werden, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei festgenommen und befragt wird. Dabei muss er mit menschenrechtswidriger Behandlung rechnen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe zur aktuellen Situation in der Türkei, Juni 2003, Nr. 2.9.2).