OVG Saarland

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Zitieren als:
OVG Saarland, Urteil vom 21.09.2004 - 1 R 15/04 - asyl.net: M5831
https://www.asyl.net/rsdb/M5831
Leitsatz:

Keine extreme allgemeine Gefahrenlage im Sinne der verfassungskonformen Auslegung von § 53 Abs. 6 AuslG für Ägypter und Ashkali im Kosovo auch unter Berücksichtigung der März-Unruhen.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Serbien und Montenegro, Kosovo, Ägypter, Ashkali, Situation bei Rückkehr, Minderheiten, Abschiebungshindernis, Widerruf, Allgemeine Gefahr, Extreme Gefahrenlage, Übergriffe, Sicherheitslage, Märzunruhen, Versorgungslage, Existenzminimum, Märzunruhen
Normen: AuslG § 53 Abs. 6; AsylVfG § 73 Abs. 3
Auszüge:

Das Verwaltungsgericht hat die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 10.6.2002, mit dem der ein Vorliegen von auf die (damalige) Bundesrepublik Jugoslawien bezogenen Abschiebungshindernissen im Falle des Klägers feststellende Bescheid vom 8.9.1999 widerrufen wurde, zu Recht abgewiesen. Die angefochtene Widerrufsentscheidung der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt den Kläger daher nicht in subjektiven Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Vorliegen der tatbestandlichen Vorgaben des § 73 Abs. 3 AsylVfG für den Widerruf ist gegeben. Die Voraussetzungen für ein Abschiebungshindernis im Sinne der beim Kläger ernstlich in Betracht zu ziehenden, für die vorliegende Entscheidung noch maßgeblichen Vorschrift des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG liegen aus heutiger Sicht (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) nicht mehr vor.

Das Vorliegen einer "Extremgefahr" hat das Verwaltungsgericht in dem angegriffenen Urteil zutreffend verneint. Eine solche Ausnahmesituation besteht für den Kläger im Kosovo mit Blick auf die dortige Lebenssituation der Ägypter nicht. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass er im Falle einer Rückkehr in den Kosovo in eine extreme, ein verfassungsrechtliches "Korrektiv" gebietende qualifzierte Gefahr geraten würde. Die Annahme, quasi jeder Ägypter würde im Falle seiner Rückkehr in den Kosovo dort überall "flächendeckend" landesweit und darüber hinaus nicht irgendwann, sondern alsbald nach einer Rückkehr im Sinne der höchstrichterlichen Rechtsprechung "sehenden Auges dem sicheren Tod" oder "schwersten Verletzungen" ausgeliefert, ist nach dem vorliegenden Dokumentationsmaterial nicht gerechtfertigt.

Das Vorbringen des Klägers im Berufungsverfahren rechtfertigt keine abweichende Einschätzung.

Dem Vortrag ist freilich, und dabei gibt es nichts zu beschönigen, eine in weiten Teilen realistische Schilderung der Situation zu entnehmen, dass die vor dem Hintergrund einer nach wie vor anhaltenden wesentlich rassistisch motivierten Diskriminierung der Minderheiten durch die albanische Bevölkerungsmehrheit im Kosovo beziehungsweise der nach wie vor angespannten wirtschaftlichen, sozialen und finanziellen Situation der Provinz zu sehenden und dadurch naturgemäß noch verschärften Lebensverhältnisse dieser ethnischen Minderheit teilweise als "erbärmlich" bezeichnet werden müssen. Insofern ergibt sich aus den vorliegenden Auskünften verschiedener Stellen ein - von Formulierungen im Einzelnen abgesehen - im Wesentlichen einheitliches Bild:...

Dies bestätigt lediglich, die allgemeine Einschätzung; dass sich die Situation der Ägypter nur lokal sehr unterschiedlich beschreiben lässt, vielfach keinesfalls unproblematisch erscheint, indes von einer den gesamten Kosovo umfassenden extremen Gefährdung aller Angehörigen der Volksgruppe nicht ausgegangen werden kann.

Das gilt auch angesichts der zuvor geschilderten Unruhen vom März 2004, die sich zwar zentral als Konflikt zwischen Serben und Albanern im Kosovo darstellten, in die aber - wie erwähnt - auch Ashkali als Opfer involviert waren. Die Lage hat sich zwischenzeitlich wieder entspannt, wenngleich - das sei hier klar betont - zum einen die Gemütslage insbesondere der betroffenen Minderheiten infolge dieser Vorfälle durch eine Mischung von Misstrauen und Angst dominiert wird und dies zum anderen auch durchaus verständlich ist, da niemand den Betroffenen eine Gewähr dafür geben kann, dass derartige rassistische Gewaltausbrüche von Albanern künftig mit Sicherheit unterbleiben oder gegen diese von vorne herein wirksam eingeschritten werden kann. Wenngleich die Rolle der internationalen Kräfte bei der unmittelbaren Bewältigung der Ausnahmesituation im März 2004 in der veröffentlichten Meinung ganz überwiegend negativ beurteilt wurde, so lässt sich doch neueren Publikationen der eindeutige Wille entnehmen, künftigen Übergriffen von Albanern auf ethnische Minderheiten im Kosovo entschiedener, frühzeitiger und wirksamer zu begegnen. Speziell die Bundeswehr hat auf die deutliche Kritik am Verhalten deutscher Soldaten mit einer umfassenden Änderung bei Ausbildung, Ausrüstung und Einsatzkonzeption reagiert, wobei letztere einen stärkeren Schutz der Minderheiten, vor allem der Serben im Raum Prizren, gewährleisten soll. Ähnlich wird bei UNMIK und KFOR verfahren. Auch dort werden Ausbildung und Ausrüstung verstärkt auf die Bekämpfung gewalttätiger Krawalle ausgerichtet, Distanzwaffen angeschafft, die Einsatzregelung für die Gewaltanwendung gelockert und vor allem im Umkreis von Minderheitensiedlungen Sicherheitszonen ausgeschildert, in denen es der Truppe bei erhöhter Gefahr erlaubt ist, auf Eindringlinge zu schießen; gleichzeitig soll durch die Einrichtung von Lagezentren und Kommandoposten die Koordination mit der UNMIK-Polizei, die im März 2004 mangelhaft gewesen war, verbessert werden. Die geschilderten Separationsmaßnahmen für die als schutzbedürftig angesehenen Minderheitengemeinschaften im Kosovo ist sicher vom Ideal einer gesellschaftlichen Befriedung und der Zielvorstellung einer Aussöhnung der verschiedenen Ethnien im Kosovo zur Herstellung eines friedlichen Zusammenlebens her keine Lösung, aber letztlich den Realitäten, insbesondere dem kriminellen Verhalten nicht unerheblicher Teile der albanischen Mehrheitsbevölkerung gegenüber den ihr insoweit ausgelieferten Minderheiten, insbesondere verschiedenen Romagruppen, geschuldet. Dass die eingeleiteten Schutzmaßnahmen aber nicht wirksam wären, so dass jeder künftig zurückkehrende Ägypter generell in akute (aktuelle) Lebensgefahr geriete, kann nicht unterstellt werden, wenngleich Übergriffe mit rassistischem Hintergrund auch mit tödlichem Ausgang im Einzelfall - wie übrigens auch in anderen Ländern unter "geordneteren" Verhältnissen - nicht ausgeschlossen werden können.

Eine Extremgefahr im Sinne der dargestellten höchstrichterlichen Rechtsprechung ergibt sich für den Kläger oder für alle Ägypter im Kosovo ferner nicht mit Blick auf die allgemeinen Existenzbedingungen. Dass es insoweit zu größeren Hungersnöten oder dergleichen personenübergreifenden existentiellen Gefährdungen gekommen wäre, ist der Dokumentation nicht zu entnehmen.

ln der Gesamtbetrachtung ist daher kein Raum für eine verfassungsrechtlich motivierte Abweichung von den rechtlichen Vorgaben des § 53 Abs. 6 AuslG "zu Lasten" der Beklagten. Darüber hinausgehende humanitäre Gesichtspunkte, wie sie letztlich den erwähnten und nach dem dargestellten Informationsmaterial ohne weiteres nachvollziehbaren Empfehlungen des UNHCR und von verschiedenen Menschenrechtsgruppen, gegenwärtig auf eine Rückführung von ethnischen Minderheiten in den Kosovo generell zu verzichten, zugrunde liegen, hat der Bundesgesetzgeber - wie eingangs erwähnt - auch am Maßstab des Verfassungsrechts in zulässiger Weise den hierfür zuständigen politischen Entscheidungsträgern überantwortet; sie haben für den Ausgang des vorliegenden Verfahrens keine entscheidende Bedeutung.