OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Urteil vom 25.05.2004 - 1 A 303/03 - asyl.net: M5851
https://www.asyl.net/rsdb/M5851
Leitsatz:

Zum Ausweisungsschutz nach Art. 8 EMRK wegen Schutzes der Ehe.(Leitsatz der Redaktion)

 

Schlagwörter: D (A), Türken, Assoziationsberechtigte, Ausweisung, Straftäter, Betrug, Freiheitsstrafe, Aufenthaltsberechtigung, besonderer Ausweisungsschutz, Regelausweisung, Schwerwiegende Gründe, Atypischer Ausnahmefall, Schutz von Ehe und Familie, Verhältnismäßigkeit, Beurteilungszeitpunkt, Generalprävention, Spezialprävention, Beschäftigungszeiten, Zusammenrechnung von Beschäftigungszeiten, Unterbrechung von Beschäftigungszeiten, Familienzusammenführung
Normen: AuslG § 48 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; AuslG § 48 Abs. 1 S. 2; AuslG § 47 Abs. 1; AuslG § 47 Abs. 3 S. 1; EMRK Art. 8; ARB Nr. 1/80 Art. 6 Abs. 1; ARB Nr. 1/80 Art. 7 S. 1
Auszüge:

Das Verwaltungsgericht hat die Ausweisungsverfügung des Stadtamts Bremen vom 03.04.2001 i. d. F. des Widerspruchsbescheids des Senators für Inneres, Kultur und Sport vom 20.06.2001 zu Recht aufgehoben. Denn diese Verfügung ist rechtswidrig. Zwar ist die ausländerbehördliche Maßnahme nach innerstaatlichem Ausländerrecht (Ausländergesetz) nicht zu beanstanden. Sie erweist sich jedoch im Hinblick auf Art. 8 EMRK als rechtswidrig. Die gemeinschaftsrechtlichen Fragen, die der Fall aufwirft, bedürfen unter diesen Umständen keiner abschließenden Klärung....

Die Ausweisung verstößt aber gegen Art. 8 EMRK. Die EMRK ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der durch Zustimmungsgesetz vom 07.08.1952 (BGBI. II, S. 685, 953) in innerstaatliches Recht umgesetzt worden ist. Seither ist sie Bestandteil des positiven Rechts der Bundesrepublik Deutschland im Range eines Bundesgesetzes (vgl. BVerfG, B. v. 26.03.1987 - 2 BvR 740/81 - NJW 1987, S. 2427) und gilt mit unmittelbarer Wirkung neben dem Ausländergesetz, dessen Regelungen sie ergänzt. Dabei mag dahinstehen, ob diese ergänzende Geltung sich auf den Gesetzesvorbehalt in § 1 Abs. 1 AuslG oder aber auf den Geltungs-und Anwendungsvorrang des EMRK-Transformationsgesetzes vor den Regelungen des Ausländergesetzes bzw. zusätzlich auf das Prinzip der völkerrechtsfreundlichen Auslegung innerstaatlichen Rechts stützen kann (vgl. zum Meinungsstand VGH Mannheim, B. v. 23.10.2002- 11 S 1410/02 - NVwZ-RR 2003, S. 304).

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens. Eine Behörde darf gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR kann die Ausweisung einer Person aus einem Staat, in dem auch ihre nahen Familienangehörigen leben, einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK darstellen. Dieser Eingriff ist nur zulässig, wenn er die Voraussetzungen des Art. 8 Abs. 2 EMRK erfüllt (vgl. zuletzt Urteil vom 15.07.2003,52206/99 <Mokrani>, InfAuslR 2004, S. 183).

Die Ausweisung muss danach entsprechend Art. 8 Abs. 2 EMRK "gesetzlich vorgesehen" sein, der "Aufrechterhaltung der Ordnung und Verhütung von Straftaten" dienen sowie "notwendig in einer demokratischen Gesellschaft"sein. Das letztgenannte Kriterium beinhaltet, dass die Ausweisung ein dringendes soziales Bedürfnis erfüllen und insbesondere verhältnismäßig zu dem verfolgten Ziel sein muss; die ausländerbehördliche Maßnahme muss ein ausgewogenes Gleichgewicht der betreffenden Interessen wahren, namentlich des Rechts des Ausländers auf Achtung des Familienlebens einerseits und der Verteidigung der Ordnung und der Verhütung von Straftaten andererseits (EGMR, U. v. 26.09.1997, 85/1996/704/896 <Mehemi>, InfAuslR 1997, S. 430; U. v. 19.02.1998,154/1996/773/974 ; <Dalia>, InfAuslR 1998, S. 201).

Die Ausgewogenheit bestimmt sich nach den Verhältnissen des jeweiligen Einzelfalles, wobei - bezogen auf eine mögliche ausweisungsbedingte Trennung der Eheleute - folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind (EGMR, U. v. 02.08.2001, 54273/00 <Boultif>, InfAuslR 2001, S. 476; U. v. 31.10.2002, 37295/97 <Yildiz>, InfAuslR 2003, S. 126): Die Natur und Schwere der begangenen Straftaten, die Dauer des Aufenthalts des Ausländers in dem Staat, aus dem er ausgewiesen werden soll, die seit der Straftat vergangene Zeit ebenso wie das Verhalten des Ausländers in dieser Zeit, die Staatsangehörigkeiten der verschiedenen betroffenen Personen, die Familiensituation des Ausländers, wie z. B. die Dauer der Ehe und andere Faktoren, die die Effektivität des Familienlebens eines Paares zum Ausdruck bringen, ob der Ehepartner von der Strafe wusste, als er die familiäre Bindung einging und ob Kinder aus der Ehe hervorgegangen sind und, in diesem Fall deren Alter. Schließlich berücksichtigt der EGMR auch die Erheblichkeit der Schwierigkeiten, mit denen der Ehepartner voraussichtlich im Herkunftsland konfrontiert ist, auch wenn allein die Tatsache, dass eine Person bei der Begleitung ihres Ehepartners einige Schwierigkeiten zu überwinden haben könnte, eine Ausweisung noch nicht ausschließt.

Ist einem Ehepartner nicht zuzumuten, dem ausgewiesenen Ehegatten in dessen Herkunftsland oder ein anderes Land zu folgen und stellt der Betreffende nur noch eine vergleichsweise geringe Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar, kann die Ausweisung nach der Rechtsprechung des EGMR unverhältnismäßig sein. Anders ausgedrückt: Sind die Interessen des Ehepartners schutzwürdig und ist ihm eine Begleitung des Ehegatten nicht zumutbar, ist eine Ausweisung nur zulässig, wenn hinreichend gewichtige spezialpräventive Gründe vorliegen. Fehlen derartige Gründe, ist die Ausweisung unverhältnismäßig. Ein Rückgriff auf generalpräventive Erwägungen ist in diesem Fall grundsätzlich nicht erlaubt.

Zu beachten ist ferner, dass der EGMR für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung nicht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens, sondern auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abstellt. Der EGMR hat insoweit etwa für die Frage der Wiederholungsgefahr ausdrücklich die persönliche Entwicklung des Ausländers bis zur Entscheidung des nationalen Gerichts berücksichtigt (vgl. U. v. 30.11.1999, 34374/99 <Baghli>, InfAuslR 2000, S. 53; U. v. 30.10.2002, 37295/97 <Yildiz>, InfAuslR 2003, S. 126; U. v. 15.07.2003, 52206/99 <Mokrani>, InfAuslR 2004, S. 183; dazu VGH Mannheim, U. v. 27.01.2004 - 10 S 1610/03 -lnfAuslR 2004, S. 189).

Die Verlagerung des maßgeblichen Beurteilungszeitpunkts im Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK ergänzt die Bestimmungen des Ausländergesetzes, nach denen auf den früheren Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens abzustellen ist, in formeller Hinsicht in einem wichtigen Punkt. Auch inhaltlich vermittelt Art. 8 EMRK dem Ehegatten eines ausgewiesenen Ausländers einen Schutz, der über das Ausländergesetz hinausgeht. Der EGMR verlangt in jedem Einzelfall eine umfassende Abwägung, bei der je nach dem Gewicht der Belange des Ehegatten generalpräventive Gründe als Rechtfertigung für die Ausweisung ausscheiden könnten.

Das Ausländergesetz erkennt demgegenüber, wie dargelegt, auch für den Fall, dass schutzwürdige eheliche Belange vorliegen und die Ausweisung zur Trennung der Eheleute führen wird, die Generalprävention als Ausweisungszweck an (vgl. § 48 Abs. 1 S 2 AuslG i. V. m. § 47 Abs. 1 AuslG) und gibt bei Vorliegen eines schwerwiegenden Ausweisungsgrundes die Ausweisung als Regelrechtsfolge normativ vor (vgl. § 47 Abs. 3 S. 1 AuslG i. V. m. § 47 Abs. 1 AusIG). Im Hinblick auf die damit regelmäßig in Kauf genommene Trennung der Eheleute bietet das Ausländergesetz - im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (B. v. 18.07.1979 -1 BvR 650/77 - BVerfGE 51, S. 386) - lediglich die Möglichkeit, die widerstreitenden Belange durch eine nachträgliche Befristung der Ausweisung auszugleichen, um so die Dauer der Trennung in einem überschaubaren Rahmen zu halten (vgl. BVerwG, U. v. 11.08.2000 - 1 C 5/00 - lnfAuslR 2000, S. 483; OVG Bremen, U. v. 30.10.2001 - 1 A 218/01. - lnfAuslR 2002, S. 119).

Das Bundesverwaltungsgericht hat wiederholt entschieden, dass ein Art. 8 EMRK etwa zu entnehmender weitergehender Ausweisungsschutz bei einer Ausweisung auf der Grundlage des Ausländergesetzes zu beachten ist (8. v. 22.02.1993 - 1 B 7/93 - InfAuslR 1993, S. 257; B. v. 21.08.1997 - 1 8 163/97 - juris), die Reichweite dieses Ausweisungsschutzes aber nachfolgend in einer Weise bestimmt, die im Hinblick auf die neuere Rechtsprechung des EGMR überprüfungsbedürftig erscheint (vgl. U. v. 17.06.1998 -1 C 27/96 -lnfAusIR, 1998, S. 424; U. v. 29.09.1998 - 1 C 8/96 - InfAuslR 1999, S. 54).

Nach vorstehendem Maßstab verstößt die Ausweisung des Klägers gegen Art. 8 EMRK.

Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung ist abzustellen auf die Verhältnisse im gegenwärtigen Zeitpunkt, also Mai 2004.

Die Ausweisung berührt den Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK, weil sie in das Familienleben des Klägers mit seiner Ehefrau eingreift. Die Ehefrau besitzt zwar nicht die deutsche Staatsangehörigkeit, hat in Deutschland aber ein gefestigtes Aufenthaltsrecht.

Der Eingriff ist "gesetzlich vorgesehen" i. S. von Art. 8 Abs. 2 EMRK. Der Kläger hat den Ausweisungstatbestand des § 47 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 S. 1 i. V. m. § 48 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Abs. 1 S. 2 AuslG verwirklicht. Er verfolgt auch die Ziele der "Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verhütung von Straftaten" i. S. von Art. 8 Abs. 2 EMRK. Anlass für die Maßnahme sind die vom Kläger begangenen erheblichen Straftaten (Urteile des LG Stuttgart vom 08.05.2000 und 02.11.2000).

Der Eingriff ist aber nicht "notwendig in einer demokratischen Gesellschaft" im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK. Zwischen dem mit ihm verfolgten legitimen Ziel einerseits und den familiären Belangen des Klägers andererseits besteht kein ausgewogenes Gleichgewicht:

Der Kläger lebt in einer intakten, bereits vor geraumer Zeit - (...) - geschlossenen Ehe. Seine Ehefrau, die die rumänische und seit der Eheschließung auch die türkische Staatsangehörigkeit besitzt, ist vollständig in die Verhältnisse in Deutschland integriert. Sie ist seit Anfang (...) ununterbrochen in (...) beschäftigt und hat die Einbürgerung beantragt. Eine Begleitung ihres Ehemannes in die Türkei schließt sie für sich aus. Ihr seien die Verhältnisse dort bekannt, sie beherrsche auch die türkische Sprache und habe dort zeitweilig gelebt. Das Leben dort sei ihr aber unerträglich. Sie pflege einen westlichen Lebensstil und bekenne sich zum christlichen Glauben. Nach den Verhältnissen, die sie in der Türkei erwarteten, kollidiere sie damit ständig mit den Vorstellungen ihrer Umgebung. Das habe sie während ihres Aufenthalts dort nachhaltig zu spüren bekommen.

Die Erklärungen der Ehefrau des Klägers sind nachvollziehbar, sie selbst nach dem Eindruck, den der Senat in der mündlichen Verhandfung von ihr gewonnen hat, glaubwürdig. Unter diesen Umständen kann von ihr nicht erwartet werden, dass sie ihrem Ehemann in die Türkei folgt.

Auf der anderen Seite ist festzuhalten, dass die vom Kläger begangenen Straftaten - massive Betrügereien - schwer wiegen. Das belegt bereits das Strafmaß, nämlich die vom Landgericht(...) verhängte Gesamtfreiheitsstrafe von (...). Allerdings kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Straftaten, die zwischen (...) begangen wurden, inzwischen - stellt man auf den im Rahmen von Art. 8 EMRK maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ab - geraume Zeit zurückliegen. Bereits das Landgericht (...) hat im Urteil vom 02.11.2000 das rückhaltlose und von Einsicht und Reue getragene Geständnis des Klägers, das die Absicht erkennen lasse, einen Schlussstrich ziehen zu wollen, berücksichtigt. Das bis (...) gezeigte Verhalten des Klägers bestätigt, dass diese Absicht dem Kläger ernst ist. Hierzu ist nicht nur auf seine positive Führung in der Strafhaft zu verweisen (vgl. die Stellungnahme der (...) vom 13.05.2003), sondern auch auf seine frühzeitigen Anstrengungen, wieder einer Erwerbstätigkeit nachzugehen (...). Die Schwierigkeiten, denen er dabei aufgrund seiner Vorstrafe sowie seines Alters begegnet, hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar geschildert. Andererseits hat er glaubhaft dargelegt, dass er ungeachtet dieser Schwierigkeiten seine Anstrengungen um eine berufliche Integration fortsetzen wird, auch um den Preis zunächst vergleichsweise schlecht bezahlter Tätigkeiten und ungünstiger Arbeitsbedingungen.

Das ändert zwar nichts daran, dass die vom Kläger begangenen Taten Anlass zur Furcht geben, er könnte in Zukunft eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellen. Zur Überzeugung des Gerichts wird diese Furcht hier aber durch die besonderen Umstände des Falles gemindert. Bei zusammenfassender Würdigung besteht nach heutigem Erkenntnisstand nur noch eine vergleichsweise geringe Gefahr für die öffentliche Sicherheit.

Die Abwägung zwischen dieser Gefahr auf der einen Seite und den gewichtigen Belangen des Schutzes des Ehelebens auf der anderen Seite führt zu dem Ergebnis, dass der durch die Ausweisung bewirkte Eingriff nicht in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel steht.