VG Darmstadt

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Zitieren als:
VG Darmstadt, Urteil vom 16.02.2004 - 5 E 30444/98.A (3) - asyl.net: M5857
https://www.asyl.net/rsdb/M5857
Leitsatz:

Verfolgungsgefahr für nichteheliches Kind, falls nicht nachträgliche Legalisierung möglich; § 53 Abs. 4 AuslG für Iranerin, die Mutter eines nichtehelichen Kindes ist, wegen drohender Auspeitschung; keine Verfolgungsgefahr wegen Konversion zum Christentum.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Iran, Flüchtlingsfrauen, Außerehelicher Geschlechtsverkehr, Nichteheliche Kinder, Behinderte, Geschlechtsspezifische Verfolgung, Soziale Gruppe, Christen, Konversion, Apostasie, Religiös motivierte Verfolgung, Religiöses Existenzminimum, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Menschenrechtswidrige Behandlung, Hadd-Strafen, Strafverfolgung, Auspeitschung
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 4; EMRK Art. 3
Auszüge:

Den Klägern stehen die mit der Klage geltend gemachten Ansprüche auf Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG bzw. des § 53 AuslG zu.

Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG liegen nach Auffassung des erkennenden Gerichts in der Person des Klägers zu 2) vor. Nach der Auswertung der dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnisse besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass er wegen seines Status als nichteheliches Kind und wegen seiner körperlichen Behinderung bei einer Rückkehr in den Iran aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgegrenzt wird und in eine ausweglose Lage gebracht wird, die seine Menschenwürde verletzt.

Nach der Einschätzung des Deutschen Orient-Instituts in seinem Gutachten 27.02.2003 hat der Kläger zu 2) bei einer Rückkehr in den Iran praktisch keine Integrationsmöglichkeiten und keine Lebensperspektiven, außer im Rahmen der engsten Kernfamilie, hier jedoch nur, wenn der Vater der Klägerin zu 1) seine ablehnende Haltung aufgibt. Die Anmeldung bei einer Schule ohne reguläres Dokument, das auch den Vater ausweist, ist im Iran nicht möglich (S. 12 des Gutachtens). Diese Einschätzung deckt sich vollständig mit den Erkenntnissen des Gerichts aus anderen Quellen. Ein nichteheliches Kind ist auch ohne körperliche Behinderung in der iranischen Rechts- und Gesellschaftsordnung ein Niemand. Ausweislich des Gutachtens des H. Siahpoosh v. 11.11.2002 (S. 3) wird ein nichteheliches Kind von der iranischen Gesellschaft nicht akzeptiert. Nichteheliche Kinder seien gemäß Art. 884 iranischen BGB nicht erbberechtigt, weder bezüglich der mütterlichen noch der väterlichen Linie. Es ist aus anderen Quellen bekannt, dass nichteheliche Kinder von der staatlichen Förderung (Schul- und Berufsausbildung) ausgeschlossen sind (vgl. Amnesty International, Auskunft vom 19.04.1990 (Dok. 66/90, S. 5); wohl eher verharmlosend: Auskunft des Auswärtigen Amtes v. 06.06.2002 (Dok. 18/02), in der es heißt, bei nichtehelichen Kindern könnten Schwierigkeiten bei der Kontaktierung iranischer Behörden (z. B. bei der Anmeldung zum Schulunterricht oder späteren Aufnahme eines Studiums) nicht ausgeschlossen werden; anders noch in der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 03.11.1992 (Dok. 43/92), wonach ein nichteheliches Kind bei seiner Rückkehr in den Iran als Schandmal der Familie angesehen werden würde und, sobald der Tatbestand der Nichtehelichkeit bekannt würde, es damit rechnen müsste, von allen, denen dieser Umstand bekannt werde, verstoßen zu werden; nach der dortigen Ansicht des Auswärtigen Amtes sei es während seines ganzen Lebens ständigen Diskriminierungen ausgesetzt; das Kind werde spätestens mit der Einschulung in das gesellschaftliche Abseits gedrängt). Bei dieser Sachlage ist eine der Würde des Menschen gerecht werdende Bildung und Entfaltung einer eigenen Persönlichkeit unmöglich; während der Minderjährigkeit hängt sein Überleben vom Wohlwollen der engsten Familienangehörigen ab. Auch im Erwachsenenalter ist es aufgrund seines Status, nichtehelich zu sein, benachteiligt.

Die im Falle des Klägers zu 2) zusätzliche körperliche Behinderung erfordert eine besondere staatliche Förderung (z. B. medizinische Betreuung), die aus den vom Deutschen Orientinstitut dargelegten Gründen nicht erreichbar erscheint. Nach alledem steht zur Überzeugungsgewissheit des Gerichts fest, dass ein nichteheliches Kind, insbesondere, wenn es behindert ist, in der iranischen Rechts- und Gesellschaftsordnung ausgegrenzt wird und als Angehöriger einer sozialen Gruppe i. S. von § 51 Abs. 1 AuslG mit Verfolgung i.S. dieser Vorschrift zu rechnen hat.

Bezüglich der Klägerin zu 1) liegen die § 53 Abs. 4 AuslG i.V. mit Art. 3 EMRK in Bezug auf den Iran vor.

Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Eine unmenschliche oder erniedrigende Strafe hat die Klägerin zu 1) jedoch wegen ihres außerehelichen Geschlechtsverkehrs zu erwarten. Das Gericht teilt zwar die Auffassung der meisten Auskunftsstellen, wonach eine Bestrafung des außerehelichen Geschlechtsverkehrs nach den Hadd-Vorschriften des iranischen Gesetzbuches (vor allem Art. 88) regelmäßig nicht möglich ist, weil die Beweisanforderungen (vier rechtschaffene Zeugen, die den Geschlechtsakt beobachtet haben müssen) regelmäßig nicht erfüllt werden können. Das Gericht hält jedoch die Einschätzung des DOI in seinem Gutachten für plausibel, wonach in Einzelfällen nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Gericht nicht vom strengen Beweisrecht ausgeht, sondern auch die eigene Überzeugung zur Grundlage seiner Entscheidungsbildung macht.

Dem entspricht, dass der Gutachter Siahpoosh nicht ausschließen konnte, dass im iranischen Strafprozess auch andere Nachweise für den unerlaubten Geschlechtsverkehr zugelassen werden, wobei das geborene nichteheliche Kind einer sein kann (Ergänzungsgutachten v. 11.12.2002). Die Möglichkeit, dass die Klägerin wegen ihrer außerehelichen Beziehung nach Art. 88 iran. StGB zu 100 Peitschenhieben verurteilt wird, kann infolgedessen nicht ausgeschlossen werden.

Unabhängig davon steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass jenseits des aus dem Koran abgeleiteten "Gottesrechts" mit absoluten Strafen (Hadd-Vorschriften) die Taazirat-Vorschriften des iranischen Gesetzbuchs eine Bestrafung der Klägerin zu 1) mit bis zu 99 Peitschenhieben für den außerehelichen Geschlechtsverkehr zulassen, wofür die bloße Überzeugung des Gerichts von der Tatbestandsverwirklichung für eine Verurteilung ausreicht und es dann vierer rechtschaffener Zeugen nicht bedarf.

Nach Art. 637 iran. Strafgesetzbuch wird eine ungesetzliche Beziehung oder eine sittenlose Tat eines Mannes und einer Frau außer Unzucht, wie etwa Bettgemeinschaft oder Küssen, mit bis zu 99 Peitschenhieben bestraft. Auch erscheint eine Bestrafung nach Art. 638 iran. Strafgesetzbuch möglich. Hiernach ist jeder, der in der Öffentlichkeit eine nach dem islamischen Strafgesetzbuch verbotene Tat ausführt, außer mit der vorgesehenen Strafe für die Tat mit einer Gefängnisstrafe von 10 Tagen bis 2 Monaten oder mit bis zu 74 Peitschenhieben zu bestrafen. Ist die Strafbarkeit nicht gesetzlich bestimmt, verlässt diese aber die öffentliche Ordnung (allgemeine Sittlichkeit), beträgt die Strafe 10 Tage bis 2 Monate oder bis zu 74 Peitschenhiebe. Es ist hiernach möglich, dass zwar nicht der außereheliche Geschlechtsverkehr geahndet wird, wohl aber die Bettgemeinschaft (vgl. Gutachten des DOI, 8).

Aus ihrem Übertritt zum christlichen Glauben lässt sich dagegen nicht die Gefahr von Abschiebungshindernissen herleiten. Das Gericht vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass ein Übertritt eines Iraners zum christlichen Glauben von iranischen Stellen als undenkbar angesehen wird und - soweit dies erst im Bundesgebiet geschieht - als im Zusammenhang mit der Aufenthaltsproblematik stehend beurteilt und akzeptiert wird. Die Konversion eines Moslems zum Christentum stellt nach den Maßstäben der islamischen Religion einen absoluten Tabubruch dar, der jenseits des Vorstellbaren liegt. Es wird daher zunächst davon ausgegangen, dass der Konvertierte es mit dem Übertritt nicht ernst gemeint habe.

Ihm wird eine "Zuwartefrist" eingeräumt, in der beobachtet wird, ob der Übertritt nicht allein "europäischen Zwecken und Zielen" - (gemeint ist: der Förderung des Asylverfahrens) dienen - sollte (Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom 26.02.1999 <Dok. 12/99>). Aus einem hiesigen Glaubensübertritt allein sind daher weder eine Bestrafung noch Repressionen nach der Rückkehr zu befürchten.

Anhaltspunkte dafür, dass im Iran das religiöse Existenzminimum (z. B. die Möglichkeit, in den eigenen vier Wänden beten zu können) nicht zur Verfügung steht, liegen nicht vor. Das Christentum ist eine von der iranischen Verfassung grundsätzlich anerkannte und geschützte Religion. Es bestehen im Iran Einrichtungen der christlichen Kirchen.