BVerfG

Merkliste
Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 06.07.2004 - 1 BvL 4/97 u.a. - asyl.net: M5975
https://www.asyl.net/rsdb/M5975
Leitsatz:

§ 1 Abs. 3 des Bundeskindergeldgesetzes in der Fassung des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms (1. SKWPG) vom 21. Dezember 1993 (Bundesgesetzblatt I Seite 2353) war nach Maßgabe der Entscheidungsgründe mit Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes unvereinbar.

Ersetzt der Gesetzgeber die verfassungswidrige Regelung nicht bis zum 1. Januar 2006 durch eine Neuregelung, ist auf noch nicht abgeschlossene Verfahren das bis zum 31. Dezember 1993 geltende Recht anzuwenden.(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: D (A), Ausländer, Kindergeld, Gleichbehandlungsgrundsatz, Kinderfreibetrag, Schutz von Ehe und Familie
Normen: BKGG § 1 Abs. 3 S. 1; SKWPG; GG Art. 6 Abs. 1; GG Art. 3 Abs. 1
Auszüge:

Der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Dem Gesetzgeber ist damit aber nicht jede Differenzierung verwehrt. Ihm kommt im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit für die Abgrenzung der begünstigten Personenkreise ein Gestaltungsspielraum zu (vgl.BVerfGE 99, 165 178>; 106, 166 175 f.>).

Für den Gesetzgeber ergeben sich aber aus dem allgemeinen Gleichheitssatz umso engere Grenzen, je stärker sich die Ungleichbehandlung auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann (vgl. BVerfGE 82, 126 146>; 88, 87 96>; 106, 166 176>). Der hierbei zu berücksichtigende Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG von Ehe und Familie enthält keine Beschränkung auf Deutsche (vgl. BVerfGE 31, 58 67>; 51, 386 396>; 62, 323 >329>).

Strengere Anforderungen an eine an die Zugehörigkeit zu einer Personengruppe anknüpfende Unterscheidung sind auch dann zu stellen, wenn der Einzelne das Vorliegen des Differenzierungsmerkmals nicht durch eigenes Verhalten beeinflussen kann. Ihr ausländerrechtlicher Status war für die Kläger der Ausgangsverfahren im Wesentlichen unabhängig von ihrem eigenen Verhalten. Die zur Prüfung vorgelegte Regelung konnte im Gegenteil dazu beitragen, dass sie ihren Status nicht durch eigene Leistung verbessern konnten. Denn der Verlust des Kindergeldes konnte die Notwendigkeit der Inanspruchnahme ergänzender Sozialhilfe erhöhen, was wiederum der Verfestigung ihres Aufenthaltsstatus entgegenstehen konnte.

Ob die zur Prüfung gestellte Regelung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist, hängt davon ab, ob für die getroffene Differenzierung Gründe von solchem Gewicht bestanden, dass sie die Ungleichbehandlung rechtfertigen konnten.

Ausländer ohne Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis verloren mit dem In-Kraft-Treten der Neuregelung des § 1 Abs. 3 Satz 1 BKGG durch das 1. SKWPG ihren Anspruch auf Kindergeld oder der Anspruch wurde ihnen bei erstmaliger Antragsteilung nach dem 31. Dezember 1993 von vornherein versagt. Damit wurden sie schlechter gestellt als Deutsche und Ausländer mit Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis.

Allerdings wurde diese Ungleichbehandlung durch steuer- und sozialhilferechtliche Regelungen gemildert.

Die Ungleichbehandlung traf damit besonders ausländische Eltern ohne Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis, deren Einkommen einerseits so niedrig war, dass sie nicht oder jedenfalls nicht in vollem Umfang von den Kinderfreibeträgen profitierten, andererseits aber doch so hoch, dass sie nicht ausschließlich von Sozialhilfe leben mussten.

Diese Ungleichbehandlung war sachlich nicht gerechtfertigt. Ungleichbehandlung und rechtfertigender Grund müssen in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Auch in Anerkennung eines Gestaltungsspielraums für den Gesetzgeber fehlte es daran bei der Regelung des § 1 Abs. 3 Satz 1 BKGG in der Fassung des 1. SKWPG. Denn es sind keine Gründe ersichtlich, die so gewichtig wären, dass sie die unterschiedliche Behandlung ausländischer Eltern ohne Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis im Vergleich zu anderen ausländischen Eltern rechtfertigen könnten.

Die zur Prüfung gestellte Vorschrift ist nicht schon deshalb gerechtfertigt, weil dem Gesetzgeber bei der Entscheidung darüber, auf welche Weise er den ihm aufgetragenen Schutz der Familie verwirklichen will, ein Gestaltungsspielraum zusteht (vgl.BVerfGE 43, 108 124>; 82, 60 81>; 106, 166 177>).

Das Kindergeld war seit seiner Einführung dazu bestimmt, die wirtschaftliche Belastung, die Eltern durch die Sorge für ihre Kinder entsteht, teilweise auszugleichen (vgl.BVerfGE 11,105 115>; 22, 28 36>; 22,163 168>; 23, 258 263>; 29, 71 79>).

§ 1 Abs. 3 BKGG fügte sich nicht in das abgestimmte System des Verhältnisses von Steuerentlastung und Sozialleistung ein. Das Kindergeld als Sozialleistung ist für Eltern umso wichtiger, je niedriger ihr Einkommen und je höher ihre Kinderzahl ist. Zweck der Kindergeldzahlungen für die Gruppe der nicht steuerlich Begünstigten bleibt der Ausgleich der (im Vergleich zu Kinderlosen) verminderten finanziellen Leistungsfähigkeit der Familie (vgl.BVerfGE 108, 52 70>). Deutsche, Ausländer mit Aufenthaltsberechtigung oder -erlaubnis und Ausländer ohne diese Aufenthaltstitel, die aber in Deutschland legal leben, sind in gleicher Weise durch die persönlichen und finanziellen Aufwendungen bei der Kindererziehung belastet. Diese besondere Belastung wurde bei Eltern oberhalb der Einkommensgruppe der hier Betroffenen durch Steuererleichterungen ausgeglichen, bei Eltern unterhalb dieser Einkommensgruppe erfolgte der Ausgleich durch Sozialhilfe, und zwar unabhängig von dem Grad der Verfestigung des Aufenthaltsstatus. Demgegenüber wurde bei Familien, die nicht oder nicht in vollem Umfang von den steuerrechtlich vorgesehenen Kinderfreibeträgen profitierten, gleichzeitig aber auch nicht ausschließlich von Sozialhilfe leben mussten, die verminderte finanzielle Leistungsfähigkeit nicht berücksichtigt.

Für eine solche Durchbrechung eines in der Erfüllung seines sozialstaatlichen Schutzauftrages aus Art. 6 Abs. 1 GG vom Gesetzgeber geschaffenen Systems bedürfte es besonders gewichtiger Gründe. Diese sind nicht ersichtlich.

Soweit es Ziel der gesetzlichen Neufassung des § 1 Abs. 3 Satz 1 BKGG war, Kindergeld nur noch solchen Ausländern zu gewähren, von denen zu erwarten sei, dass sie auf Dauer in Deutschland blieben (vgl. BTDrucks 12/5502, S. 44), war die Regelung ungeeignet, das Ziel zu erreichen.

Ungeeignet war die Regelung auch zur Erreichung des in der Stellungnahme der Bundesregierung genannten Regelungszwecks, vermeintlich vorhandene Zuwanderungsanreize für - insbesondere kinderreiche - Ausländer abzubauen. Dass die Frage des Kindergeldes für die hier betroffene Gruppe Einfluss auf das Zuwanderungsverhalten hatte, ist weder belegt noch nachvollziehbar. Die Regelung benachteiligte nur Ausländer, die legal in Deutschland lebten und bereits in den deutschen Arbeitsmarkt integriert waren.