OVG Saarland

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Zitieren als:
OVG Saarland, Urteil vom 01.12.2004 - 2 R 23/03 - asyl.net: M5993
https://www.asyl.net/rsdb/M5993
Leitsatz:

Keine durchgreifende Verbesserung der Menschenrechtslage in der Türkei; ist ein Antrag auf Zulassung der Berufung anhängig, beginnt die Drei-Monats-Frist für die Stellung eines Asylfolgeantrages erst mit Unanfechtbarkeit der Ablehnung der Berufungszulassung(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Folgeantrag, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Exilpolitische Betätigung, DHKP-C, Besetzungsaktion, Strafverfolgung, Hurriyet, Demonstrationen, Auslandsvertretung
Normen: AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

Der Beigeladene hat das Vorliegen eines Wiederaufgreifensgrundes nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG mit seinem Folgeantrag schlüssig dargelegt, so dass die Beklagte zu Recht in eine erneute Sachprüfung eingetreten ist. Gemessen an den detailreichen Schilderungen des Beigeladenen betreffend den konkreten Geschehensablauf und die Öffentlichkeitswirksamkeit der Aktion war die Teilnahme an der Besetzung des Verlagsgebäudes unter Berücksichtigung der Rechtsprechung zur Asylrelevanz exilpolitischer Betätigungen geeignet, die Gefahr politischer Verfolgung als Konsequenz dieser Aktivität möglich erscheinen zu lassen und damit einen Anspruch auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens zu eröffnen.

Exilpolitische Aktivitäten eines türkischen Staatsangehörigen begründen die Gefahr politischer Verfolgung nach allgemeiner Auffassung, wenn dieser sich in exponierter Weise prokurdisch und damit gegen die Türkei betätigt, wobei Exponiertheit - Öffentlichkeitswirksamkeit vorausgesetzt - hinsichtlich der nach außen auftretenden Organisatoren regimekritischer Aktivitäten und der sich eindeutig regimekritisch äußernden Wortführer in der Regel zu bejahen ist. Exilpolitisch tätige Kurden können nach der Rechtsprechung des Gerichts im Einzelfall aber auch ohne Innehabung einer herausragenden Funktion oder augenfälligen Inerscheinungtretens ihrer Betätigung innerhalb kurdischer Gruppen aufgrund besonderer Umstände - etwa leichter Identifizierbarkeit als prokurdischer Aktivist bei Gelegenheit einer öffentlichkeitswirksamen oder in der Zeitung abgebildeten Veranstaltung - der Gefahr unterliegen, von dem in der Bundesrepublik operierenden türkischen Geheimdienst erfasst und dann bei Rückkehr in die Türkei verfolgt zu werden (OVG Saarlouis, Beschluss vom 1.7.1995 - 9 Q 27/95 -).

Die Teilnahme des Beigeladenen an der Besetzung des Verlagsgebäudes ist als exponiertes exilpolitisches Tätigwerden im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung des Gerichts zu würdigen.

Im Einzelnen ist insoweit festzuhalten, dass die Teilnahme des Beigeladenen an der Besetzung des Verlagshauses unstreitig ist; ebenso ist unstreitig, dass die Aktion das Erscheinen mindestens einer europaweit vertriebenen türkischen Zeitung verhindert hat und daher jedenfalls auf deren Leserschaft einen nachhaltigen Eindruck ausgeübt hat, weswegen von einer beachtlichen Breitenwirkung in der großen Gruppe der in Europa lebenden Türken ausgegangen werden muss. Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass der Vorfall und seine Folgen für den Vertrieb der türkischen Zeitungen der türkischen Auslandsvertretung nicht verborgen geblieben ist. Unstreitig ist ferner die anschließende zivilrechtliche Inanspruchnahme u.a. des Beigeladenen durch den Verlag und damit die Tatsache, dass seine Personalien dem Verlag bekannt waren. Weiter ist unstreitig, dass ein Strafverfahren eingeleitet wurde.

Neben diesen unstreitigen Gesichtspunkten ist auch das weitere Vorbringen des Beigeladenen durchaus beachtlich. So legt er dar, dass seine Teilnahme an der Besetzungsaktion seine politische - linksextremistische - Einstellung belege. Er weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Anhänger linksextremistischer Gruppierungen - u.a. der DHKP-C - in der Türkei verfolgt würden. Ferner argumentiert er damit, dass die Zeitung Hürriyet als staatsnah einzustufen sei und als Sprachrohr des türkischen Staates für im Ausland lebende Türken gelte; es bestehe eine enge Verflechtung zwischen dem Redaktionsstab und führenden türkischen Staatsrepräsentanten. In diesem Zusammenhang ergibt sich aus der Presseberichterstattung - NZZ vom 3.5.2002 - , dass die Tageszeitung "Hürriyet" als der Armee nahestehend bekannt ist.

Gemessen an dem nach alledem erheblichen Vorbringen des Beigeladenen hat dieser sich exilpolitisch exponiert, in dem er als ein Mitglied eines überschaubaren namentlich im Einzelnen bekannten Personenkreises das Erscheinen einer europaweit vertriebenen als staatsnah einzustufenden türkischen Zeitung verhindert und hierdurch öffentlichkeitswirksam seine den Hungerstreik in türkischen Gefängnissen kritisierende linksextremistische politische Überzeugung zum Ausdruck gebracht hat.

Die aus dem damaligen Verhalten des Beigeladenen resultierende Gefahr politischer Verfolgung in der Türkei besteht nach der Sach- und Rechtslage im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat trotz der zwischenzeitlichen Bemühungen der derzeitigen türkischen Regierung um eine Verbesserung der Menschenrechtslage fort.

Zunächst kann nicht angenommen werden, dass das durch die konkret in Rede stehende Aktivität des Beigeladenen bedingte Interesse des türkischen Staates an den damaligen Aktivisten infolge Zeitablaufs entfallen wäre. Von Relevanz ist in diesem Zusammenhang, dass die Partei des Beigeladenen, die DHKP-C, die für die Besetzung des Verlagsgebäudes verantwortlich war, in der Türkei seit Jahren massiven staatlichen Repressionen ausgesetzt ist. Diese Gruppierung ist in der Türkei schon seit längerer Zeit verboten; zudem hat die Türkei sich bereits seit den 90iger-Jahren bemüht, die Europäische Union dazu zu bewegen, diese linksgerichtete Gruppierung offiziell zur Terrororganisation zu erklären (NZZ vom 3.5.2002, S. 4, was sie schließlich am 2.5.2002 getan hat, Lagebericht des AA vom 19.5.2004, S. 21).

Die in jüngster Zeit in Gang gesetzten Reformbestrebungen der türkischen Regierung haben bislang keine grundlegende Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere der Menschenrechtslage, in der Türkei zu bewirken vermocht.

Zunächst gibt es aus aktueller Sicht keinen Anlass zur Annahme, das Interesse des türkischen Staates an öffentlichkeitswirksamen Auslandsaktivitäten von DHKP-C-Aktivisten sei gesunken.

Dass der türkische Staat am 29.7.2003 das "Gesetz zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft" verabschiedet hat, das die Möglichkeit eröffnet, Mitgliedern terroristischer Organisationen auf Antrag Straffreiheit oder Strafmilderung zu gewähren, und das auch Anhänger der DHKP-C veranlasst haben soll, solche Anträge zu stellen, reicht in diesem Zusammenhang nicht aus, zumal über den Erfolg der von DHKP-C Anhängern gestellten Anträge keine Erkenntnisse vorliegen (vgl. Lagebericht, a.a.O., S. 21 und das Gesetz bereits am 7.2.2004 wieder außer Kraft getreten ist. Kaya, Gutachten vom 25.10.2004 an OVG Münster).

Hinzu kommt, dass zu den derzeit über 8.000 in Zusammenhang mit terroristischen Straftaten in der Türkei in Haft Befindlichen zahlreiche Anhänger der DHKP- C gehören, die ihren Kampf im Untergrund weiterführt (Lagebericht, a.a.O., S. 27 und Dr. Tellenbach, Silvia, Auskunft an das VG Frankfurt/Main vom 5.7.2003).

Auch das allgemeine Bemühen der derzeitigen türkischen Regierung, Folter und Misshandlung zu unterbinden, erlaubt nicht die Schlussfolgerung, dass eine Rückkehrgefährdung des Beigeladenen nicht mehr besteht.

Nach der aktuellen Auskunftslage gibt es derzeit und auf absehbare Zeit keine Grundlage für die Annahme, dass regimefeindliche Rückkehrer vom Zuschnitt des Beigeladenen in der Türkei nichts mehr zu befürchten hätten.

So ist es der Regierung trotz der neuen Gesetze noch nicht gelungen, Folter und Misshandlungen flächendeckend zu unterbinden (Lagebericht, a.a.O., S. 35). Nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes darf die deutliche Verbesserung der Lage nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Implementierung der Vorschriften mit dem Ziel der Beachtung des geltenden Rechts durch die Sicherheitskräfte noch großer Anstrengung bedarf (Lagebericht, a.a.O., S. 36). Es könne zwar davon ausgegangen werden, dass zurückkehrende Asylbewerber nicht gefoltert würden, und zwar auch dann nicht, wenn sie bereits zuvor gefoltert und misshandelt worden seien; (Lagebericht, a.a.O., S. 36 f) die Gefahr einer Misshandlung nur aufgrund von vor der Ausreise liegenden wirklichen oder vermeintlichen Straftaten sei angesichts der durchgeführten Reformen und der Erfahrungen der letzten Jahre in diesem Bereich äußerst unwahrscheinlich (Lagebericht, a.a.O., S. 45). Schwierigkeiten für abgeschobene Personen könnten allerdings dann eintreten, wenn deren Befragung oder die Durchsuchung des Gepäcks bei den Grenzbehörden oder Recherchen bei den Heimatbehörden - gegebenenfalls in Verbindung mit belastenden Aussagen oder Informationen Dritter - den Verdacht der Mitgliedschaft in oder der Unterstützung der PKK oder anderer illegaler Organisationen begründeten. Angehörige dieses Personenkreises würden nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes den zuständigen Sicherheitsbehörden übergeben (Lagebericht, a.a.O., S. 44).

Nach aktuellen Erkenntnissen Kayas (Gutachten vom 2.5.2004 an VG Frankfurt/Oder sowie Gutachten vom 25.10.2004 an OVG Münster) gibt es trotz der seitens der Regierung beschlossenen Reformen keine durchgreifenden Verbesserungen der Menschenrechtslage für Personen und Organisationen, die im Zusammenhang mit der kurdischen Frage stehen. Es sei im Ermittlungsverfahren und bei Verhören fester Bestandteil der Methodik der türkischen Sicherheitskräfte, auf Beschuldigte psychischen und physischen Druck auszuüben und sie zu foltern, um Geständnisse zu erzwingen und von ihnen Informationen zu erhalten. Diese seit Jahren systematisch angewandte Methode werde immer noch praktiziert.

Nach Einschätzung der größten türkischen Menschenrechtsorganisation IHD sind die Menschenrechte in der Türkei nach wie vor ein ernstzunehmendes und ungelöstes Problem. Die erlassenen Gesetze seien nicht ausreichend, zudem hapere es an ihrer Umsetzung, da es immer noch starke Kräfte, militärische Institutionen und Personen in- und außerhalb der Regierung gebe, die sich gegen eine Demokratisierung und den Aufbau einer Zivilgesellschaft stellten. Diese sorgten dafür, dass bestehende Gesetze blockiert würden und ihre Umsetzung verhindert werde.

Es gebe nach wie vor besorgniserregende Beschwerden aufgrund von Folter und Misshandlungen in Untersuchungshaft. Im Allgemeinen sei das Vorgehen gegen illegal gegründete Vereine der Linken wie der Islamisten sehr hart (FR vom 3.6.2004, S. 6). Der Reformkurs der türkischen Regierung stößt im Land nach Presseberichten auf starke Widerstände vor allem der Militärs (FR vom 15.7.2004, S. 7).

Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnislage gibt es derzeit keine Grundlage für die Annahme, der Beigeladene sei im Falle seiner Rückkehr rechtserheblich weniger als zur Zeit des BescheiderIasses gefährdet. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass die Neigung zur Anwendung von Folter in der Praxis der türkischen Sicherheitskräfte tief verwurzelt ist und dass aufgrund der neuen Gesetze gegen die Anwendung von Folter noch keine plötzliche umfassende Verbesserung eingetreten ist. Der notwendige Umsetzungsprozess ist bislang eher zögerlich in Gang gekommen; eine schnelle weitere Entwicklung weg von der Folter ist in Anbetracht der gesellschaftlichen Gegebenheiten - insbesondere der Rolle und des Selbstverständnisses der Militärs und der türkischen Sicherheitskräfte - nicht absehbar.