VGH Hessen

Merkliste
Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 11.11.2004 - 8 UE 2759/01.A - asyl.net: M6073
https://www.asyl.net/rsdb/M6073
Leitsatz:

1. Für die Verfolgungsgefährdung ehemaliger afghanischer DVPA-Mitglieder sind auch nach Entmachtung der Taliban im Prinzip noch die in der Rechtsprechung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs seit 1996 entwickelten Grundsätze heranzuziehen.

Danach besteht eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit nicht schon wegen der bloßen, einfachen Mitgliedschaft in DVPA, Geheimdienst, Militär oder sonstigen Regierungsstellen; bedroht sind aber solche DVPA-Mitglieder oder Regierungsmitarbeiter, die unter dem früheren kommunistischen Regime eine ranghohe Stellung eingenommen hatten, in dieser Tätigkeit deutlich und für einen größeren Personenkreis erkennbar nach außen getreten sind und durch die Ausübung ihrer Funktion - insbesondere im Militär und Geheimdienst - für die Tötung oder Verfolgung von Mudschaheddin verantwortlich gemacht werden könnten.

Unter den gegenwärtigen Verhältnissen sind aber für eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer landesweiten Lebens- oder Leibesgefährdung ehemaliger DVPA-Mitglieder tendenziell eher höhere Anforderungen an deren herausragende Stellung, an ihren überregionalen Bekanntheitsgrad und an ihre Teilnahme an gegen Mudschaheddin gerichteten Aktivitäten zu stellen als unter der Herrschaft der Taliban.

2. Eine verfassungswidrige Schutzlücke, die eine verfassungskonforme Anwendung des § 53 Abs. 6 AuslG rechtfertigen könnte, besteht wegen des derzeitigen generellen Abschiebungsstopps für Afghanistan nach der zur Zeit gültigen Hessischen Erlasslage nicht. (amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Afghanistan, Paschtunen, DVPA, Schatzmeister, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Sicherheitslage, Versorgungslage, Allgemeine Gefahr, Extreme Gefahrenlage, Erlasslage, Abschiebungsstopp, Schutzlücke
Normen: AuslG § 53 Abs. 6; AuslG § 54
Auszüge:

Eine Verpflichtung des Bundesamtes zur Feststellung der tatbestandlichen Voraussetzungen eines Abschiebungshindernisses ergibt sich zunächst nicht in unmittelbarer Anwendung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG. Dem Kläger droht nach der gegenwärtigen Sachlage im Falle der Rückkehr nach Afghanistan nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit und landesweit eine konkrete, d.h. einzelfallbezogen und individuell auf seine Person zielende erhebliche Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit.

Dabei sind auch Gefahren zu berücksichtigen, die der Schutzsuchende bereits ohne Erfolg in einem Asylverfahren vorgebracht hat, die Gefahr muss auch nicht vom Staat oder von einer staatsähnlichen Macht ausgehen oder diesem(r) zurechenbar sein. Da der Gefahrbegriff des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG nicht das sich aus dem besonderen humanitären Charakter des Asylrechts ergebende Element der Zumutbarkeit der Rückkehr enthält, hat eine eventuelle Vorverfolgung für den anzulegenden Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer individuell erheblichen Gefährdungssituation aber auch keine herabstufende Wirkung (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9/95 - NVwZ 1996 S. 199 ff. = juris).

Die vom Kläger dargelegte Mitgliedschaft in der kommunistischen DVPA, sein Studium in der ehemaligen Sowjetunion, seine beruflichen und ehrenamtlichen Tätigkeiten unter der kommunistischen Regierung Afghanistans, seine paschtunische Volkszugehörigkeit und/oder sonstige besondere persönliche Umstände, wie etwa auch seine Betätigung in exilpolitischen Gruppierungen, begründen für ihn keine über die allgemeine Gefahrenlage in Afghanistan hinausgehende und davon unabhängige individuelle Gefahr im Sinne dieser Vorschrift.

Dem Kläger ist auch seine etwa zweijährige Tätigkeit als (...) des DVPA-Verbandes der Provinz (...) abzunehmen; er hat aber darüber hinaus keine konkreten substantiierten Angaben gemacht, aus denen sich ergeben könnte, dass er in einer hochrangigen Stellung in dem früheren kommunistischen Regime deutlich und einen größeren Personenkreis erkennbar nach außen getreten wäre und durch die Ausübung seiner Funktion - insbesondere im Militär- oder im Geheimdienst - für die Tötung oder Verfolgung von Mudschaheddin verantworlich gemacht werden könnte. Er hat vielmehr rein technisch/administrative, wenn auch leitende Tätigkeiten ausgeübt und selbst während seiner Militärzeit als einfacher Soldat nicht an Kampfeinsätzen teilgenommen, sondern anderen Soldaten Unterricht in Lesen und Schreiben erteilt. Es ist deshalb ohne plausiblen Hintergrund und bleibt im Gegensatz zu seiner sonstigen Darstellung auch pauschal und oberflächlich, wenn in den von ihm eingereichten schriftlichen Bescheinigungen und Stellungnahmen und in seiner persönlichcn Anhörung vor dem Senat am 11. November 2004 davon die Rede ist, er habe als aktiver Kader und bekannte Person der DVPA an Aktivitäten, Demonstrationen und an dem politischen Kampf gegen den Fundamentalismus und die Fundamentalisten teilgenommen (Bescheinigungen des Ingenieurs Barial vom 8. Juli 2002 und des früheren Generals Gulaham Nabi), er habe 25 Jahre lang gegen die Leute gekämpft, die jetzt in Afghanistan an der Macht seien (Anhörung vom 11. November 2004) und er sei nach der Machtübernahme der Mudschaheddin 1992 untergetaucht und habe mit seiner Familie Tag und Nacht in Angst vor deren Übergriffen verbracht (Stellungnahme des Klägers vom 25. März 2004). Er hat zwar auch in seiner persönlichen Anhörung angegeben, dass er mit seiner Familie nach (...) wiederholt (...) verlassen und sich in (...)- der Stadt seiner ersten beruflichen Tätigkeit und Geburtsstadt seiner Ehefrau - und in (...) - dem früheren Wohnsitz seiner beiden volljährigen Söhne und der Hauptstadt seiner Geburtsprovinz Nangahar - aufgehalten hat; zur Begründung hat er aber zunächst ohne weitere Erläuterung lediglich ausgeführt, er sei verfolgt worden; naheliegender erscheint deshalb, dass der Kläger mit seiner Familie jeweils vor den Auswirkungen des Bürgerkrieges geflohen ist. Auf Nachfrage des Gerichts hat er dann zwar ergänzt, der Kommandant Massuds in der Provinz (...) und jetzige Verteidigungsminister Fahim habe ihn (..) in Kabul persönlich bedroht. Er hat dazu aber keine plausiblen und nachvollziehbaren Gründe und Einzelheiten geschildert. Gegen die Existenz bzw. Ernsthaftigkeit einer solchen Drohung spricht auch, dass es dem Kläger nach seinen Angaben vor dem Bundesamt und dem Senat nach (...) durchaus möglich war, seine Immobilien in (...) zu vermieten und (...) zu verkaufen.

Zudem wäre eine solche Bedrohung nach den allgemeinen Erkenntnissen angesichts der Stellung des Klägers zwar nicht völlig ausgeschlossen, aber auch nicht sehr wahrscheinlich.

Die Feststellung eines Abschiebungshindernisses in unmittelbarer Anwendung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG lässt sich auch nicht damit begründen, dass Auslandsafghanen und Rückkehrer nach dem Lagebericht des AA vom 6. August 2003 (Stand: Juli 2003, S. 13) über den praktisch landesweit herrschenden Zustand allgemeiner und weitgehender Rechtlosigkeit hinaus typischerweise Opfer von Menschenrechtsverletzungen, Streitigkeiten um willkürlich besetzte Privatgrundstücke und Wasserquellen, Plünderungen und Gelderpressungen seien, weil von ihnen angenommen werde, dass sie über finanzielle Ressourcen und/oder Rückkehrbeihilfen verfügten (so aber VG Wiesbaden, u.a. Urteil vom 14. November 2003 - 7 E 2415/03.A (V) -).

Diese besonderen Gefahren für Rückkehrer erwachsen nämlich aus der generell schlechten Sicherheitslage Afghanistans und stellen sich deshalb als typische Auswirkungen der allgemeinen Gefahrenlage dar, die durch individuelle oder gruppenspezifische erschwerende Besonderheiten begründet oder verstärkt werden, die aber an der Typik einer sich realisierenden allgemeinen Gefahr im Sinne des Satzes 2 des § 53 Abs. 6 AuslG nichts ändern (vgl. u.a BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 1998 - 9 C 4/98 - NVwZ 1999 S. 666 ff. = juris).

Der Kläger hat auch wegen der allgemeinen schlechten Wirtschafts- und Sicherheitslage in Afghanistan keinen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen eines Abschiebunshindernisses gemäß § 53 Abs. 6 AuslG in verfassungskonformer Anwendung. Dies setzt neben einer extremen Gefahrenlage auch eine verfassungswidrige Schutzlücke voraus, die wegen des derzeitigen generellen Abschiebungsstopps für Afghanistan nicht besteht.

Eine Überwindung der Sperrwirkung durch verfassungskonforme Anwendung des § 53 Abs. 6 AuslG wegen einer extremen Gefährdungslage ist wegen der aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz folgenden Pflicht zur möglichst weitgehenden Beachtung des gesetzlichen Regelungskonzepts aber nur zulässig, um verfassungswidrige Schutzlücken zu vermeiden. Deshalb wurde diese zunächst nur dann als geboten und zulässig angesehen, wenn nicht bereits zielstaatsbezogener Abschiebungsschutz nach anderen Bestimmungen (§ 53 Abs. 1, 2, 4 oder 6 Satz 1 AuslG) oder nach § 54 AuslG bestand. Die verfassungskonforme Anwendung des § 53 Abs. 6 AuslG ist darüber hinaus aber auch dann zulässig, wenn der Abschiebung zwar anderweitige Hindernisse entgegenstehen, aber keinen gleichwertigen Schutz bieten, der dem entspricht, den der Ausländer bei Vorliegen eines Erlasses nach § 54 AuslG oder bei unmittelbarer Anwendung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG hätte. Ist der Ausländer anderweitig und gleichwertig vor Abschiebung geschützt, bedarf es nicht des zusätzlichen Schutzes durch eine verfassungskonforme Anwendung des § 53 Abs. 6 AuslG. Als gleichwertig in diesem Sinne können noch unentschiedene sonstige Bleiberechte und Duldungsansprüche oder vorübergehende faktische Vollstreckungshindernisse nicht angesehen werden. Das Bundesamt und die Verwaltungsgerichte sind deshalb auf die Prüfung beschränkt, ob eine bestimmte Erlasslage oder eine aus individuellen Gründen bereits schriftlich erteilte Aufenthaltsgenehmigung oder Duldung weiteren Abschiebungsschutz im Wege einer verfassungskonformen Anwendung des § 53 Abs. 6 AuslG entbehrlich macht (vgl. BVerwG, Urteile vom 12. Juli 2001 - 1 C 2/01 - und - 1 C 5/01 - NVwZ 2001 S. 1420 ff. und NVwZ 2002 S. 101 ff. jeweils = juris).

Eine in diesem Sinne verfassungswidrige Schutzlücke, die eine verfassungskonforme Anwendung des § 53 Abs. 6 AuslG zu Gunsten des Klägers ermöglichen würde, besteht im gegenwärtigen Zeitpunkt im Hinblick auf Afghanistan nicht, so dass die Frage einer extremen allgemeinen Gefahrenlage in diesem Abschiebezielstaat derzeit keiner Entscheidung bedarf.

Dem Kläger ist zwar ausweislich seiner Ausländerakte keine asylverfahrensunabhängige Duldung oder ein sonstiges Bleiberecht erteilt worden; als gleichwertiger Schutz ist aber der generelle Abschiebestopp nach dem derzeitigen Erlass des Hessischen Ministeriums des lnnern und für Sport vom 22. Juli 2004 über die Rückführung afghanischer Staatsangehöriger anzusehen. Dieser führt vorangegangene Erlasse vom 3. Dezember 2003, 26. Januar und 29. März 2004 fort und verweist auf den Beschluss der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (IMK) vom 7./8. Juli 2004, wonach in den nächsten Monaten Regelungen ausgearbeitet werden sollen über eine zwangsweise Rückführung nach Afghanistan, die nach früheren Beschlüssen vom 6. Juni und 6. Dezember 2002 auf Grund der zivilen und militärischen Lage in Afghanistan "derzeit bzw. zunächst weiterhin grundsätzlich nicht in Betracht" kam und dann jeweils für spätere Zeitpunkte angestrebt wurde. In dem Erlass ist weiter ausgeführt, dass nach dem IMK-Beschluss vom 7./8. Juli 2004 die Entscheidung über den Zeitpunkt des generellen Beginns der Rückführung ausreisepflichtiger afghanischer Staatsangehöriger weiterhin offen sei und deren Duldungen daher bis zum 31. Dezember 2004 weiter verlängert werden können.

Damit ist inhaltlich eine dem § 54 Satz 1 AuslG vergleichbare Entscheidung getroffen worden, wenn auch vom Wortlaut her keine strikte Anordnung der Abschiebungsaussetzung vorliegt und es angesichts deren inzwischen sechs Monate deutlich übersteigender Dauer nach Satz 2 der Vorschrift auch eines Einvernehmens mit dem Bundesminister des Inneren bedurft hätte. Ob deshalb eine Anordnung gemäß § 54 AuslG unwirksam wäre (oder ob die Bundeseinheitlichkeit nicht durch die gemeinsame Beschlusslage der IMK-Konferenz hinreichend gewahrt ist), kann hier dahinstehen, weil neben einer Anordnung nach § 54 AuslG auch jede andere ausländerrechtliche Erlasslage zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke ausreicht, die dem einzelnen Ausländer einen vergleichbar wirksamen Schutz vor Abschiebung vermittelt (vgl. VGH Bad.-Wütt., Urteil vom 20. September 2001 - A 14 S 2130/00 - InfAuslR 2002 S. 102 ff. = juris).

Das kann für den hessischen Erlass vom 22. Juli 2004 trotz seines nicht anordnenden Wortlauts im Ergebnis bejaht werden. Die Formulierung, dass die Duldungen afghanischer Staatsangehöriger bis 31. Dezember 2004 weiter verlängert werden "können", ist nicht als Einräumung eines freien Ermessens an die Ausländerbehörden zu verstehen, sondern stellt nur eine Öffnung für die anschließend aufgeführten Sonderfälle (Straftäter, sog. Sicherheitsgefährder und Befugnisverlängerungen) dar. Aus dem in Bezug genommenen IMK-Beschluss ergibt sich jedenfalls, dass im Übrigen derzeit keine Abschiebung nach Afghanistan durchgefühlt wird.

Auch der Umstand, dass der Erlass im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung keine drei Monate mehr erfassen wird, steht der Gleichwertigkeit des Schutzes nicht entgegen, da jedenfalls eine Verlängerung bis Ende April 2005 sicher zu erwarten ist (vgl. auch VGH Bad.-Württ., a.a.O. S. 105). Wenn vorher oder danach ein Rückübernahmeabkommen mit Afghanistan abgeschlossen werden sollte, bliebe es dem Kläger unbenommen, eine von ihm gleichwohl angenommene extreme allgemeine Gefahrenlage in Afghanistan im Rahmen eines Folgeschutzgesuchs an das Bundesamt geltend zu machen und ein Wiederaufgreifen des Verfahrens zu verlangen, weil die gerichtlich bestätigte negative Feststellung zu § 53 Abs. 6 AuslG nur mit dem Inhalt bestandskräftig wird, den sie durch die letzte verwaltungsgerichtliche Entscheidung erhält (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2001 - 1 C 2/01 - a.a.O.).

Soweit die Gleichwertigkeit dieses Schutzes im Hinblick auf die Bindungswirkung des § 42 Satz 1 AsylVfG und die Förmlichkeit eines Widerrufsverfahrens gemäß § 73 Abs. 3 AsylVfG verneint werden könnte, steht dem zum einen entgegen, dass diese Verfahrensgestaltung auch bei einem Erlass nach § 54 AuslG nicht besteht und dass zum anderen die zusätzlichen Vorteile aus der weitreichenden Bindungswirkung der Bundesamts-Entscheidung nicht zu berücksichtigen sind, weil sie nicht dem Interesse des Asylbewerbers, sondern der Bewältigung der behördlichen Zuständigkeitsaufteilung dienen (vgl. BVerwG a.a.O. S. 1422).

Die Erlasslage über die derzeitige Abschiebungsaussetzung nach Afghanistan ist auch weder "noch unentschieden" noch ein "vorübergehendes (nur) faktisches Vollstreckungshindernis" und bietet deshalb gleichwertigen Abschiebeschutz im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts.