VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 29.12.2004 - 12 TG 3649/04 - asyl.net: M6075
https://www.asyl.net/rsdb/M6075
Leitsatz:

1. Ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erwerben auch die in Deutschland geborenen Kinder eines türkischen Arbeitnehmers, der eine aufenthaltsrechtliche Position nach Art. 6 ARB 1/80 inne hat. Das Aufenthaltsrecht kann weiter geltend gemacht werden, wenn der türkische Arbeitnehmer inzwischen aus dem Erwerbsleben ausgeschieden ist und erlischt ferner nicht dadurch, dass der Begünstigte etwa durch Verbüßung einer zeitigen Freiheitsstrafe zeitweilig dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung steht (jeweils im Anschluss an EuGH, 11.11.2004, C-467/02).

2. Türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht aufgrund Assoziationsrechts inne haben, können sich nicht auf entsprechende Anwendung der für Unionsbürger bestehenden verfahrensrechtlichen Position nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU berufen. (amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Türkei, Assoziationsberechtigte, Ausweisung, Straftäter, Jugendstrafe, Haftstrafe, Wiederholungsgefahr, Sofortvollzug, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: ARB Nr. 1/80 Art. 7 S. 1; ARB Nr. 1/80 Art. 6; FreizügG/EU § 7 Abs. 1 S. 1; ARB Nr. 1/80 Art. 14; EG Art. 39 Abs. 3
Auszüge:

 

 

Aufgrund der gegen den verwaltungsgerichtlichen Beschluss vorgebrachten Beschwerdegründe kann nicht festgestellt werden, dass das Verwaltungsgericht den Antrag auf Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den ausländerbehördlichen Bescheid zu Unrecht abgelehnt hat. Die Ausweisung und die Abschiebungsandrohung erscheinen im Ergebnis offensichtlich rechtmäßig.

Hiernach hängt die Rechtmäßigkeit der Ausweisung des Antragstellers nach Maßgabe von Art. 14 ARB 1/80 davon ab, ob auf den Einzelfall des Antragstellers bezogen angenommen werden kann, dass auch in Zukunft von ihm erhebliche Gefährdungen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit in entsprechender Anwendung von Art. 39 Abs. 3 EG ausgehen (siehe EuGH, 11.11.2004, a.a.O. zur dahingehenden Auslegung von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80; siehe ferner BVerwG, 03.08.2004, a.a.O.). Bei Anlegung dieses Maßstabes ist derzeit nicht hinreichend erkennbar, dass die durch die mindestens bis ins Jahr 2003 hineinreichende, vielfältige Straffälligkeit des Antragstellers dokumentierte schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr besteht. Noch im (...) - bereits nach Strafantritt in der Jugendhaftanstalt - kam die Jugendgerichtshilfe in einem Bericht über den Antragsteller zu der Einschätzung, dass dieser aufgrund seiner labilen Situation ohne grundlegende Änderung seines Lebenswandels sehr gefährdet sei, wieder in die Straffälligkeit abzugleiten und deshalb keine günstige Entwicklungsprognose über ihn derzeit abgegeben werden könne. Zwar enthält der Bericht der Justizvollzugsanstalt (...) dann eine erheblich günstigere Einschätzung aufgrund des zwischenzeitlichen Vollzugsverlaufs und der Antragsteller ist deshalb am (...) nach Verbüßung von zwei Dritteln seiner Strafe vorzeitig zur Bewährung entlassen worden.

Weiter heißt es in dem Bericht jedoch dann, für die Zeit nach der vorzeitigen Entlassung aus der Haftanstalt sei bereits Kontakt zum Arbeitsamt B-Stadt und zur Bildungswerkstatt der Hessischen Wirtschaft in Gießen aufgenommen worden, wo für den Antragsteller eventuell eine überbetiebliche Lehrfortsetzung möglich sei, der Berufsberater des Arbeitsamtes habe sich zuversichtlich gezeigt, dass der Antragsteller eine Lehrfortsetzung für die Zeit nach der Haftentlassung finde. Weiter war seitens der Jugendvollzugsanstalt vorgesehen, dass der Antragsteller nach der Haftentlassung Aufnahme im Haushalt seines Bruders in (...) findet und der Wohnortwechsel von (...) für ihn gleichermaßen einen Neuanfang bedeuten soll. Entgegen dieser von der Vollzugsanstalt eingeleiteten Orientierung für die Zeit nach der Haftentlassung hat der Antragsteller jedoch dann ausweislich seines Vortrags im

Beschwerdeverfahren eine Stelle als (...) angenommen und seinen Wohnsitz wieder nach (...) verlegt. Mit dem Beschwerdevorbringen wird auch nicht erklärt, aus welchen Gründen der Antragsteller der Empfehlung der Vollzugsanstalt nicht gefolgt ist. Diese neueste Entwicklung lässt den Antragsteller nach Auffassung des Senats wieder erheblich gefährdet erscheinen, in das alte Milieu zurückzukehren und erneut straffällig zu werden. Weder hat er seinen Wohnsitz außerhalb seiner bisherigen Umgebung in (...) genommen noch hat er die in der Haftanstalt begonnene Berufsausbildung fortgesetzt. Vielmehr hat er offenbar eine ungelernte Tätigkeit angenommen, bewegt sich wieder in Frankfurt und das Erreichen eines Schul- bzw. Berufsabschlusses ist nicht erkennbar. Unter diesen Umständen ist trotz der Haftzeit eine nachhaltige Stabilisierung des Antragstellers nicht zu erkennen und auch nicht in naher Zukunft zu erwarten.

Entgegen der Auffassung des Antragstellers bestehen auch keine rechtlichen Zweifel an der Anordnung des Sofortvollzuges und der hierin zum Ausdruck kommenden Absicht des Antragsgegners, ihn vor Abschluss des gegen die Ausweisungsverfügung gerichteten Hauptsacheverfahrens abzuschieben. Insbesondere ist § 7 des ab 1. Januar 2005 geltenden Freizügigkeitsgesetzes/EU - FreizügG/EU - auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige nicht anwendbar. Nach § 7 Abs. 1 FreizügG/EU sind Unionsbürger erst ausreisepflichtig, wenn die Ausländerbehörde unanfechtbar festgestellt hat, dass das Freizügigkeitsrecht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht. Dies bedeutet, die Ausreisepflicht beginnt für Unionsbürger erst mit Bestandskraft der feststellenden Verfügung und die Anordnung des Sofortvollzugs der feststellenden Verfügung ist nicht zulässig bzw. führt nicht zur Begründung einer Ausreisepflicht (so bereits sinngemäß Hess. VGH, 28.09.2004 - 12 TG 1986/04 -, InfAuslR 2004, 425; s. ferner Hess. VGH, 29.12.2004 - 12 TG 3212/04 -). Zwar hat der Europäische Gerichtshof wiederholt entschieden (siehe z. B. EuGH, 20.02.2000 - C- 340/97 - "Nazli" - InfAuslR 2001, 161; zuletzt 11.11.2004, a.a.O.), dass die Grundsätze über die Freizügigkeit der Unionsbürger so weit wie möglich auf die türkischen Arbeitnehmer, die die im Beschluss ARB 1/80 eingeräumten Rechte besitzen, übertragen werden müssen und das Bundesvelwaltungsgericht hat die Übertragung dieser Grundsätze auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige ausdrücklich bestätigt, soweit es sich um materiell-rechtliche Positionen handelt (BVerwG, 03.08.2004 - 1 C 29.02 -, a.a.O.) aber offen gelassen, ob die gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze auch insoweit zu übertragen sind, als sie nur verfahrensrechtlichen Gehalt haben (BVerwG, a.a.O). Mit der Regelung in § 7 Abs. 1 FreizügG/EU werden jedoch keine gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze umgesetzt, vielmehr geht die hier gewährte verfahrensrechtliche Position von Unionsbürgern über die gemeinschaftsrechtlich gewährleistete Position hinaus und eine Übertragung der nationalen Regelung in § 7 Abs. 1 FreizügG/EU scheidet deshalb aus.