VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 18.11.2004 - 13 S 2394/04 - asyl.net: M6088
https://www.asyl.net/rsdb/M6088
Leitsatz:

Zur Ausweisung wegen Gefährdung der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland nach §§ 8 Abs. 1 Nr. 5 und 47 Abs. 1 Nr. 4 und 5 AuslG (entspricht § 54 Nr. 5, 5a, und 6 AufenthG). (amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: D (A), Staatenlose, Palästinenser, Ausweisung, freiheitlich demokratische Grundordnung, Gefährdung, Gefährdung der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland, Exilpolitische Betätigung, Hizb ut-Tahrir, HuT, Verbotene Organisationen, Besonderer Ausweisungsschutz, Deutschverheiratung, Deutsche Kinder, Schutz von Ehe und Familie, Sofortvollzug, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt
Normen: AuslG § 8 Abs. 1 Nr. 5; AuslG § 47 Abs. 2 Nr. 4; AuslG § 47 Abs. 2 Nr. 5; AuslG § 48 Abs. 1 S. 1; GG Art. 6
Auszüge:

Was den dem Antragsteller vorgeworfenen Ausweisungstatbestand des § 47 Abs. 2 Nr. 5 AuslG angeht, so neigt auch der Senat zu der Auffassung, dass der Antragsteller bei den im Zusammenhang mit § 8 Abs.1 Nr. 5 AuslG stehenden Sicherheitsbefragungen vom 5.3.2003 und vom 19.5.2003 teilweise unwahre, mindestens aber unklare und unvollständige Angaben über seine Kontakte zur HuT und zu Personen, die dieser Organisation nahe stehen, gemacht hat. Letztlich bedarf es insofern aber im Beschwerdeverfahren keiner weiteren Ausführungen, weil vieles dafür spricht, dass der Ausweisungstatbestand des § 47 Abs. 2 Nr. 5 AuslG im konkreten Fall von seinem Gewicht her wohl nicht in der Lage wäre, im Rahmen der Ermessensausübung die für den Antragsteller sprechenden Gesichtspunkte, insbesondere die Familienschutzvorschriften des Art. 6 Abs. 1 GG/Art. 8 Abs. 1 EMRK, zu überwinden.

Was den im Vordergrund der Ausweisungsverfügung stehenden Ausweisungstatbestand des § 47 Abs. 2 Nr. 4 i. V.m. § 8 Abs. 1 Nr. 5 AuslG angeht, wirft die streitige Verfügung dem Antragsteller vor, er gefährde durch seine Verbindungen zur HuT und sein Verhalten die freiheitliche demokratische Grundordnung und die (innere) Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland; eine der sonstigen Fallgruppen des § 8 Abs. 1 Nr. 5 AuslG (Beteiligung an Gewalttätigkeiten bei der Verfolgung politischer Ziele, öffentlicher Aufruf zu Gewaltanwendung oder Drohung mit Gewaltanwendung, Mitgliedschaft in einer Vereinigung, die den internationalen Terrorismus unterstützt, oder entsprechende eigene Unterstützung einer solchen Vereinigung) liegt auch nach Auffassung der Antragsgegnerin hier nicht vor. Für die Auslegung des § 8 Abs. 1 Nr. 5 AuslG haben die genannten Tatbestände allerdings mittelbar insofern Bedeutung, als ihnen Anhaltspunkte für die erforderliche Intensität der eingetretenen oder drohenden Rechtsgutverletzung - hier: Gefährdung der freiheitlich demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland - entnommen werden können. Unter diesem Gesichtspunkt ist es von Bedeutung, dass auch die Behörde dem Antragsteller konkret keinerlei Aktivitäten zugunsten der HuT für die Zeit nach dem Erlass der- vom Bundesverwaltungsgericht noch nicht bestätigten, aber infolge des Sofortvollzugs bereits mit Bekanntgabe wirksamen - Verbotsverfügung vom 10.1.2003 vorwirft. Sowohl der Besuch bei der Konferenz in (...) als auch die mit Hilfe des Antragstellers zustande gekommene Veranstaltung in (...) mit einem hohen Repräsentanten der HuT liegen zeitlich vor der Verbotsverfügung, und auch die bei der am (...) erfolgten Durchsuchung festgestellten (und der HuT zuzurechnenden) Unterlagen, insbesondere die Exemplare der Zeitschrift (...) stammen aus der Zeit vor der Verbotsverfügung. Es ist nach wie vor nicht nur zweifelhaft, ob der Antragsteller "Mitglied" der HuT war - eine Frage, die auch vom Organisationsgrad dieser Vereinigung abhängt -, sondern erst recht, ob er eine solche Mitgliedschaft nach der Verbotsverfügung weiter beibehalten hat. Erkenntnisse über diese Fragen liegen nicht vor.

Zwar ist auch nach Auffassung des Senats bereits wegen der Teilnahme des Antragstellers an der Konferenz in England und seiner aktiven Mitwirkung bei der Diskussionsveranstaltung in München davon auszugehen, dass der Antragsteller jedenfalls im (...) mindestens ein Sympathisant der HuT war und deren Ziele gebilligt hat; eine herausragende Funktion in dieser Vereinigung, die nunmehr nach ihrem Verbot eine entsprechende Distanzierung verlangen würde (siehe dazu VGH Bad.- Württ., Beschluss vom 7.5.2003 - 1 S 254/03 -, VBIBW 2003, 477), liegt hier aber offensichtlich nicht vor. In dem am 7.5.2003 entschiedenen Fall (a.a.O.), in dem sich der Verwaltungsgerichtshof mit der Vorschrift des § 8 Abs. 1 Nr. 5 AuslG befasst hat, handelte es sich immerhin um einen exponierten Repräsentanten des Kalifatsstaats, einen sog. Gebietsemir und Ersten Vorsitzenden eines örtlichen islamischen Zentrums, der maßgeblich für die Aktivitäten dieses (besonders aktiven) Zentrums verantwortlich war; er war gleichzeitig Ansprechpartner und Verbindungsperson und aufgrund seines Bekanntheitsgrades Anlaufstelle für sonstige Mitglieder, hatte Einblick in die Organisation, in Mitgliederlisten und die Finanzierung der Organisation sowie Kontakt zu den wichtigsten Funktionären und gehörte außerdem der Ratsversammlung der Organisation an, die in unregelmäßigen Zeitabständen in beratender Funktion Fragen der Organisation erörterte (siehe dazu VGH Bad.-Württ., a.a.O.). Bei dieser Fallgestaltung hat der Verwaltungsgerichtshof angenommen, dass auch nach einer Verbotsverfügung noch die konkrete Gefahr weiteren Eintretens für die Ziele der Organisation besteht, solange der Betroffene sich nicht deutlich und nach außen hin für Gleichgesinnte von seinen früheren Funktionen und Einstellungen distanziert. Eine solche Situation ist hier nicht gegeben; es spricht viel mehr dafür, dass der Antragsteller - wenn überhaupt- nicht mehr als ein einfaches Mitglied der HuT war. Eigene Unterstützungshandlungen - etwa öffentliches Werben für die HuT o.ä. - sind dem Antragsteller für die Zeit nach der Verbotsverfügung gar nicht und für die Zeit vorher lediglich im Zusammenhang mit dem Besitz der Zeitschriften, der Teilnahme an der Konferenz in (...) und der Mitwirkung an einer Diskussionsveranstaltung in (...) vorzuwerfen. Für Aktivitäten nach Vereinsverboten hat die Strafrechtsprechung im übrigen immer darauf abgestellt, dass es strafrechtlich nicht ausreicht, wenn der Betroffene zwar mit den Zielen des verbotenen Vereins sympathisiert, aber nicht organisatorisch in die verbotene Vereinigung oder eine ihrer Untergliederungen eingebunden ist; für die Annahme einer Unterstützungshandlung wird die Übernahme einer verantwortlichen Position, eines auf eine gewisse Dauer angelegten Amtes oder Tätigkeitsbereiches oder ein nach außen hin erkennbares eigenes Werben für die Ideen und Parolen der Vereinigung für erforderlich gehalten (siehe dazu im einzelnen die Nachweise bei Bay. VGH, Urteil vom 27.5.2003 - 10 B 03.59 -, AuAS 2003, S. 195, 198). Wenn es sich hier auch um strafgerichtliche Entscheidungen im Zusammenhang mit der "Unterstützung" von verbotenen Vereinigungen handelt, können diese Anforderungen auch für die genannte ausländerrechtliche Vorschrift von Bedeutung sein; auch in § 8 Abs. 1 Nr. 5 AuslG ist von der "Unterstützung" von bestimmten Vereinigungen die Rede. Insofern teilt der Senat den Ansatzpunkt des Verwaltungsgerichts, der Tatbestand des § 8 Abs. 1 Nr. 5 AuslG verlange jedenfalls, dass sich die Gefahr für die freiheitlich demokratische Grundordnung oder die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland in der Person des Antragstellers konkretisiert. Dies setzt - wie dargelegt - bei unterstellter verfassungswidriger Zielsetzung der HuT mindestens die Prognose voraus, dass der Antragsteller auch nach der Verbotsverfügung für die genannte Organisation in einer Weise aktiv tätig sein wird, die zu einer den sonstigen Tatbeständen des § 8 Abs. 1 Nr. 5 AuslG vergleichbaren Rechtsgütergefährdung zu Lasten der Bundesrepublik Deutschland führen könnte. Ausreichende Anhaltspunkte für eine solche Annahme bestehen nach Auffassung des Senats jedenfalls nach der bisherigen Erkenntnislage nicht. Aus den gleichen Gründen ergibt sich, dass auch das - grundsätzlich erforderliche (siehe BVerfG, Beschluss vom 12.9.1995 - 2 BvR 1179/95 -, NVwZ 1996, 59; siehe auch Beschluss vom 25.2.1999 - 2 BvR 1554/98 -, juris und Bay. VGH, Beschluss vom 11.2.2004 - 10 Cs 03.3009 -, AuAS 2004, 91) öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der angegriffenen Verfügung jedenfalls zur Zeit nicht gegeben ist. Der Senat geht zwar davon aus, dass bei hinreichend eindeutiger Annahme eines Ausweisungsgrundes nach § 47 Abs.2 Nr. 4 i.V.m. § 8 Abs. 1 Nr. 5 AuslG wegen der Hochrangigkeit der gefährdeten Rechtsgüter grundsätzlich ein besonderes öffentliches Interesse am sofortigen Vollzug einer auf diese Vorschriften gestützten Ausweisung besteht; dies setzt aber voraus, dass in der Person des betroffenen Antragstellers die begründete Gefahr besteht, dass er auch während des Laufs des von ihm betriebenen Verfahrens gegen die Ausweisung für die Ziele der verbotenen Vereinigung in zentraler Stellung eintreten und damit gegen die verfassungsmäßige Ordnung und die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland verstoßen wird (siehe dazu VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 7.5.2003 a.a.O.). Die bloß abstrakte Möglichkeit einer Gefährdung reicht für die Annahme eines "Rückfalls" allgemein nicht aus (siehe dazu Bay. VGH a.a.O.), und erst recht gilt dies dann, wenn - wie im vorliegenden Fall - die Annahme verfassungsfeindlicher Aktivitäten auch schon für die Vergangenheit problematisch ist. Auch in § 58 a des am 1.1.2005 in Kraft tretenden Aufenthaltsgesetzes kommt zum Ausdruck, dass in Fällen der hier zu beurteilenden Art die sofortige Vollziehung einer Ausweisung eine "auf Tatsachen gestützte Prognose zur Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland" voraussetzt. Im vorliegenden Fall ist es nach Auffassung des Senats auch angesichts des hohen Rangs der in § 8 Abs. 1 Nr. 5 AuslG genannten Rechtsgüter hinnehmbar, wenn sich der Antragsteller bis zum Abschluss des Widerspruchs - und ggf. Gerichtsverfahrens weiterhin in der Bundesrepublik aufhält. Seine nicht nur beruflichen, sondern auch familiären Interessen an seiner weiteren Anwesenheit im Bundesgebiet sind so hochrangig, dass sie die - wie dargelegt - nur wenig greifbare Annahme einer konkreten Gefährdung der genannten Rechtsgüter durch den Antragsteller überwiegen.