VGH Baden-Württemberg

Merkliste
Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 15.11.2004 - 13 S 778/02 - asyl.net: M6089
https://www.asyl.net/rsdb/M6089
Leitsatz:

1. Der Lauf der für den Wegfall der Sperrwirkung der Ausweisung gesetzten Frist beginnt gemäß § 8 Abs. 2 Satz 4 AuslG (gleichlautend § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG) grundsätzlich mit der Ausreise bzw. Abschiebung des Ausländers. Dies gilt auch dann, wenn der ausgewiesene Ausländer weder freiwillig ausreisen noch abgeschoben werden kann.

2. Dies führt deshalb nicht zu unterträgliche Folgen, da es § 30 Abs. 4 AuslG einem ausgewiesenen Ausländer, er aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen weder freiwillig ausreisen noch abgeschoben werden kann, ermöglicht, ohne vorherige Ausreise und ohne Befristung der Wirkungen der Ausreise wieder einen rechtmäßigen Aufnethalt zu erlangen.(Amtliche Leitsätze)

 

Schlagwörter: D (A), Libanesen, Kurden, Staatenlose, Ausweisung, Straftäter, Drogendelikte, Sperrwirkung, nachträgliche Befristung, Fristlauf, Ausreise, Abschiebungshindernis, Freiwillige Ausreise, Unionsbürger, Freizügigkeit, Ausweisungszweck, Generalprävention, Spezialprävention, Bundeszentralregister, Tilgungsfrist, Verwertungsverbot
Normen: AuslG § 8 Abs. 2 S. 1; AuslG § 8 Abs. 2 S. 2; AuslG § 8 Abs. 2 S. 3; AuslG § 8 Abs. 2 S. 4; AuslG § 30 Abs. 4
Auszüge:

Das Verwaltungsgericht ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass dem Kläger ein Anspruch gegen die Beklagte zusteht, die rechtlichen Wirkungen seiner Ausweisung auf den 31.3.2001 zu befristen. Dem steht die gesetzliche Regelung des § 8 Abs. 2 Satz 4 AuslG entgegen, nach der bei einer Befristung der Sperrwirkung der Ausweisung und Abschiebung gemäß § 8 Abs. 2 Satz 3 AuslG die Frist mit der Ausreise des Ausländers aus dem Bundesgebiet beginnt. Diese gesetzliche Bestimmung findet nach ihrem eindeutigen Wortlaut grundsätzlich auch dann Anwendung, wenn einer zwangsweisen Abschiebung oder freiwilligen Ausreise des ausgewiesenen Ausländers rechtliche oder tatsächliche Hindernisse entgegenstehen.

Ob dem Kläger eine freiwillige Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland möglich war bzw. ist, kann offen bleiben. Denn nach dem differenzierten Regelungssystem des deutschen Ausländerrechts besteht auch in den Fällen, in denen weder eine Abschiebung noch eine freiwillige Ausreise des Ausländers in Betracht kommt, für eine - in der Rechtsprechung vereinzelt für notwendig gehaltene (vgl. OVG Bremen, Urteil vom InfAuslR) - einschränkende Auslegung des § 8 Abs. 2 Satz 4 AuslG dahingehend, dass die Befristungswirkungen ohne Anknüpfung an eine vorherige Ausreise einzutreten hätten, keine Veranlassung. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber die Fälle, in denen sowohl die Abschiebung als auch die freiwillige Ausreise des ausgewiesenen Ausländers nicht möglich sind, bei der Formulierung des § 8 Abs. 2 Satz 4 AuslG nicht bedacht hat und mithin insoweit eine Regelungslücke besteht....

Nicht zu teilen vermag der Senat daher auch die vom Verwaltungsgericht vertretene Ansicht, dass dem Ausländer, dessen Ausweisung - wie im Fall des Klägers - nicht vollzogen worden ist, zumindest dann auch ohne Ausreise ein Anspruch auf Befristung der Sperrwirkung der Ausweisung mit sofortiger Wirkung zusteht, wenn der mit der Ausweisung verfolgte ordnungsrechtliche Zweck, die Allgemeinheit vor dem Ausländer wegen der Gefahr einer Wiederholung strafbarer Handlungen zu schützen und andere Ausländer von der Verwirklichung von Ausweisungsgründen abzuschrecken, durch Sachverhaltsänderung entfallen ist. Richtig ist zwar, dass nach höchstrichterlicher Rechtsprechung freizügigkeitsberechtigte Angehörige eines EG-Mitgliedstaats (Unionsbürger) beanspruchen können, dass ihnen ohne weiteres - ohne vorherige Ausreise (d.h. entgegen der gesetzlichen Regelung des § 8 Abs. 2 Satz 4 AuslG) - der rechtmäßige Aufenthalt durch Befristung der Ausweisungswirkungen ermöglicht werden muss, wenn die Ausländerbehörde die Ausweisung noch nicht vollzogen hat und keine Gründe mehr vorliegen, die eine Einschränkung des dem Ausländerrecht zustehenden Freizügigkeitsrechts rechtfertigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 7.12.1999-1 C 13.99-, InfAuslR 2000, 176). Diese Rechtsprechung trägt jedoch dem Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts Rechnung, der erfordert, dass eine Befristung der Wirkungen einer Ausweisung eines Unionsbürgers so erfolgen muss, dass sich das diesem nach § 12 Abs. 1 AufenthG/EWG zustehende Freizügigkeitsrecht sogleich entfalten kann, wenn keine Gründe mehr vorliegen, die eine Einschränkung der Freizügigkeit rechtfertigen. Sie kann entgegen der vom Verwaltungsgericht vertretenen Ansicht nicht auf Fälle wie den vorliegenden übertragen werden, da dies mit dem Willen des Gesetzgebers und dem klaren Wortlaut des § 8 Abs. 2 Satz 4 AuslG nicht zu vereinbaren ist (a.A. wohl OVG Bremen, Urteil vom 30.10.2001 - a.a.O. -).

Das Verwaltungsgericht hat jedoch im Ergebnis zu Recht entschieden, dass der Kläger von der Beklagten verlangen kann, seinen Antrag auf Befristung der Wirkungen der gegen ihn ergangenen Ausweisung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.

Mit dem Bescheidungsbegehren ist die Klage auch begründet; denn die Beklagte hat von dem ihr durch § 8 Abs. 2 Satz 3 AuslG eingeräumten Befristungsermessen nicht fehlerfrei Gebrauch gemacht.

Die Behörde hat die Dauer der Sperrwirkung nach pflichtgemäßem Ermessen zu bestimmen. Für die Befristung der Sperrwirkung einer Ausweisung bedeutet dies, dass die konkrete Dauer der Frist nach dem im jeweiligen Einzelfall durch die Ausweisung vorgegebenen spezial- und/oder generalpräventiven Ausweisungszweck zu bemessen ist.

Demgemäß hat die Behörde unter Berücksichtigung vorrangigen Rechts aufgrund einer Abwägung aller wesentlichen Umstände des Falles zu entscheiden, ob nach dem Ausweisungszweck die (weitere) Fernhaltung des Ausländers vom Bundesgebiet geboten ist. Nach der Ausweisung eingetretene Umstände, die für oder gegen das Fortbestehen der Sperrwirkung sprechen, sind dabei zu berücksichtigen (vgl. Urteil des Senats vom 24.6.1998 - 13 S 1099/96 -, InfAuslR 1998, 433; BVerwG, Urteil vom 11.8.2000 - 1 C 5.00 -, DVBI. 2001, 212 jeweils mit Nachweisen). Bei der Befristungsentscheidung muss die Ausländerbehörde auch das Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 BZRG beachten. Ob die Ausländerbehörde dabei aus Rechtsgründen jeweils einen Endpunkt der Sperrfrist zu wählen hat, der vor Ablauf der Tilgungsfrist liegt, die gemäß § 46 BZRG für die zur Ausweisung des Ausländers führende Verurteilung maßgeblich ist, kann vorliegend offen bleiben (bejahend GK, AuslR, § 8 AuslG RdNr. 105). Denn unabhängig davon erweist sich der Bescheid der Beklagten in der maßgeblichen Fassung des Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidiums Stuttgart sowie seiner Ergänzung deshalb als rechtsfehlerhaft, weil die für die Festsetzung der 12-jährigen Sperrfrist maßgebliche Erwägung des Regierungspräsidiums Stuttgart, die nach § 46 Abs. 1 Nr. 4 BZRG im Fall des Klägers geltende Tilgungsfrist von 15 Jahren werde nicht überschritten, wie zwischen den Beteiligten unstreitig ist, auf einer Verkennung der Rechtslage beruht und mithin eine rechtliche Fehlgewichtung zur Folge hat, die zu einer Aufhebung der vom Kläger angegriffenen Bescheide führen muss.