OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 17.01.2005 - 2 M 718/04 - asyl.net: M6149
https://www.asyl.net/rsdb/M6149
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Duldung, Wohnsitzauflage, Widerspruch, Suspensiveffekt, Sofortvollzug, Gesetzesänderung, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: AuslG § 56 Abs. 3 S. 2; AufenthG § 84; VwGO § 80 Abs. 2 Nr. 4; VwGO § 80 Abs. 5
Auszüge:

Das Verwaltungsgericht hat den Antrag der Antragstellerin auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 15.11.2004 zu Unrecht abgelehnt. Für die mit Bescheid vom 02.12.2004 nachträglich angeordnete sofortige Vollziehung der Wohnsitzauflage hat der Antragsgegner ein überwiegendes öffentliches Interesse am Sofortvollzug nicht dargelegt.

Um zu erreichen, dass der Widerspruch der Antragstellerin gegen die - selbständig anfechtbare (vgl. BayVGH, Beschl. v. 16.02.2000 - 10 CS 99.3290 -, InfAuslR 2000, 223) - Auflage vom 15.11.2004 keine aufschiebende Wirkung entfaltet, bedurfte es gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO der Anordnung der sofortigen Vollziehung der Verfügung, was allerdings ein besonderes öffentliches Interesse voraussetzt. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen eine - wie hier - auf der Grundlage von § 56 Abs. 3 Satz 2 des Ausländergesetzes ergangene und nach § 102 Abs. 1 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes - AufenthG - vom 30.07.2004 (BGBl I 1950) auch nach In-Kraft-Treten des AufenthG am 01.01.2005 wirksam gebliebene Auflage entfällt nicht bereits kraft einer gesetzlichen Regelung. Insbesondere handelt es sich bei einer solchen Auflage um keine Maßnahme in der Verwaltungsvollstreckung im Sinne von § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO i. V. m. § 9 des Gesetzes zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung und des Bundesdisziplinargesetzes - VwGO-AG-LSA - vom 28.01.1992.

Die einer Duldung beigefügte Wohnsitzauflage nach § 56 Abs. 3 Satz 2 AuslG hat keinen vollstreckungsrechtlichen Charakter.

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die streitige Wohnsitzauflage ist auch nicht mit In-Kraft-Treten des § 84 AufenthG entfallen, da diese Vorschrift nicht für vor dem 01.01.2005 erteilte Auflagen nach § 56 Abs. 3 Satz 2 AuslG gilt. Der nachträgliche Entzug einer Verfahrensposition - wie hier der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs -, die für den Betroffenen mit nicht unerheblichen Nachteilen verbunden ist, tritt nur ein, wenn das die Änderung verfügende Gesetz selbst hinreichend deutlich diesen Verlust ausspricht (BVerwG, Urt. v. 12.03.1998 - BVerwG 4 CN 12.97-, BVerwGE 106, 237). Dem AufenthG, insbesondere auch den Überleitungsbestimmungen, lässt sich indessen ein solcher Ausspruch nicht entnehmen. § 84 AufenthG bestimmt vielmehr, dass eine Auflage nach § 61 Abs. 1 AufenthG keine aufschiebende Wirkung hat. Die Überleitungsvorschrift in § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG regelt nur, dass die vor dem 01.01.2005 getroffenen Auflagen einschließlich ihrer Rechtsfolgen wirksam bleiben.

Für die behördliche Anordnung der sofortigen Vollziehung der Verfügung bedarf es gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO eines besonderen öffentlichen Interesses (vgl. OVG LSA, Beschl. v. 04.09.1995 - 2 M 29/95 -; VGH BW, Beschl. v. 19.06.1991 - 11 S 1229/91 -, InfAuslR 1992, 27; HessVGH, Beschl. v. 02.09.1988 - 12 TH 3533/87 -, EZAR 622 Nr. 5, jew. zur nachträglichen Befristung einer Aufenthaltserlaubnis). Dieses Interesse, das grundsätzlich über das allgemeine Interesse an dem Erlass des Verwaltungsakts selbst hinausgehen muss, hat die Behörde gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO zu begründen. Dabei ist grundsätzlich eine auf den Einzelfall bezogene Darstellung des besonderen öffentlichen Interesses dafür notwendig, dass ausnahmsweise die sofortige Vollziehbarkeit notwendig ist und dass hinter dieses erhebliche öffentliche Interesse das Interesse des Betroffenen zurückstehen muss, zunächst von dem von ihm bekämpften Verwaltungsakt nicht betroffen zu werden (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 13. AufI., § 80 RdNr. 85, m. w. N.).

Diesen Anforderungen genügt die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung im Bescheid des Antragsgegners vom 02.12.2004 nicht. Sie ist wortgleich mit der Begründung in der Musterverfügung im Erlass des Ministeriums des Innern des Landes Sachsen-Anhalt vom 20.02.2004 (42.3-12230/35) und lässt nicht erkennen, weshalb gerade im Fall der Antragstellerin ein besonderes Interesse für den Sofortvollzug gegeben ist, das über das Interesse am Erlass der Wohnsitzauflage selbst hinausgeht.

Eine auf den Fall der Antragstellerin bezogene Begründung war auch nicht deshalb entbehrlich, weil - wie das Verwaltungsgericht ausgeführt hat - die Gründe für den Sofortvollzug in einer Vielzahl von Fällen gleich gelagert seien. Zwar können bei gleichartigen Tatbeständen gleiche oder standardisierte Begründungen oder Begründungselemente zulässig sein (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl., § 80 RdNr. 85; BayVGH, Beschl. v. 22.05.1987 - Nr. 5 CS 87.01402 -, BayVBI 1987, 560 <in Massenverfahren>). Es muss aber auch in diesen Fällen gewährleistet sein, dass die Besonderheiten des Einzelfalls berücksichtigt werden (OVG Bremen, Beschl. v. 07.04.1999 - 1 B 25/99 -, NordÖR 1999, 374; Kopp/Schenke, a. a. 0.). Daran fehlt es hier schon deshalb, weil Nr. 2.3 des genannten Erlasses vom 20.02.2004, an die sich der Antragsgegner gehalten hat, der Ausländerbehörde unter Hinweis auf die Musterverfügung vorgibt, dass die Maßnahme (stets) im "überwiegenden" öffentlichen Interesse liege und die sofortige Vollziehung anzuordnen sei. Die Möglichkeit, im Einzelfall von der Anordnung der sofortigen Vollziehung abzusehen, ist nicht vorgesehen.