VG Regensburg

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Zitieren als:
VG Regensburg, Urteil vom 17.01.2005 - RN 3 K 04.30621 - asyl.net: M6174
https://www.asyl.net/rsdb/M6174
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Christen, Flüchtlingsanerkennung, Widerruf, Religiös motivierte Verfolgung, Anschläge, Übergriffe, Gesetzesänderung, Zuwanderungsgesetz, Verfolgung durch Dritte, Nichtstaatliche Verfolgung, Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte, Schutzfähigkeit, Gebietsgewalt, Interne Fluchtalternative, Nordirak
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AsylVfG § 73; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Der streitgegenständliche Widerruf der mit Bescheid vom 11. April 2001 getroffenen Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 51 Abs. 1 AuslG und von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG findet in § 73 AsylVfG keine Rechtsgrundlage mehr, weil zum 1. Januar 2005 die §§ 51 und 53 AuslG durch § 60 Aufenthaltsgesetz ersetzt wurden.

Der Kläger ist ein Christ aus dem Irak. Bei Christen im Irak liegen aber die Voraussetzungen einer nichtstaatlichen Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c) AufenthG vor.

Aufgrund der ihm vorliegenden Erkenntnisquellen stellt sich für das Gericht die Situation im Irak für Christen wie folgt dar:

Im neuesten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2. November 2004 wird anders als noch in dem vorausgegangenen Lagebericht vom 7. Mai 2004 S. 7 die Lage der Christen sehr umfänglich dargestellt. Danach gibt es im Irak wachsende islamische Tendenzen im Rahmen des Kampfes vor allem islamistischer bewaffneter Gruppen gegen die Übergangsregierung und gegen die multinationale Truppe im Lande. Dabei sind vor allem auch ethnisch-konfessionelle Minderheiten überdurchschnittlich häufig Opfer von Entführungen. Seit Mai 2003 kommt es danach immer wieder zu Übergriffen gegen Alkoholläden und deren zumeist christliche Besitzer. Insbesondere im schiitisch dominierten Süden des Landes gibt es Anzeichen für eine zunehmende Islamisierung des öffentlichen Lebens, in dem zum Beispiel Druck auf Frauen ausgeübt wird, Kopftücher zu tragen. Konzertierte Bombenanschläge auf christliche Kirchen Anfang August 2004 und erneut am 16. Oktober 2004 haben bei den irakischen Christen große Zukunftsängste geweckt. Es wird von mehreren Tausenden Flüchtlingen Richtung Nordirak und Syrien gesprochen. In Abwesenheit effektiver staatlicher Gewalt sind Minderheiten oft leichtere Opfer als Angehörige der großen ethnisch-religiösen Gruppen, die durch ihre weiterreichenderen Verwandtschafts- und Clanverbände bessere Einflussmöglichkeiten auf die Entführer haben. Tendenziell können sich im Einzelfall Entführungen in einem Umfeld, das sich derzeit ständig stärker "islamisiert", bereits jetzt gezielt gegen eine bestimmte ethnisch-religiöse Minderheit richten, oft in Verbindung mit dem Vorwurf der Kollaboration mit den Besatzungstruppen.

Nach der Herkunftsländerinformation - Irak des UNHCR vom August 2004 hat sich die Situation der Christen im Irak seit dem Sturz von Saddam Hussein dramatisch verschlechtert. Die Christen gelten als Unterstützer der Koalitionskräfte. Sie werden von islamistischen Fundamentalisten und anderen extremen Gruppen der irakischen Gesellschaft als Ungläubige bezeichnet. Die Anschläge im August 2004 auf Kirchen in Bagdad und Mossul sowie die steigende Anzahl irakischer Christen, die in den vergangenen Monaten in das angrenzende Syrien geflohen sind, sind Anzeichen für eine weitere Zuspitzung der Situation der Christen im Irak.

Nach einem Bericht in der Wochenzeitung "Die Zeit" vom 21. Oktober 2004 "Gottes verfolgte Kinder" markiert die Jagd auf Alkoholverkäufer den Beginn der Christenverfolgung im Irak.

Nach dem Bericht von Spiegel Online vom 2. August 2004 ("Koordinierter Terror gegen Christen") wurden im August in Bagdad und in Mossul sechs christliche Kirchen von Selbstmordattentätern attackiert.

Nach der Einschätzung von Caritas International - Christen im Irak (www.caritas- international.d@) steigt im Zuge der Re-lslamisierung nach dem laizistischen Baath-Regime die Gefahr für Andersgläubige und gemäßigte Muslime. Die Christen sind verhältnismäßig oft Opfer von Gewalttaten.

Dem Internetportal von schweizer Christen (Iivinet.ch) zum Thema "Werden die einheimischen Christen im Irak überleben?" wird darüber berichtet, dass auch die im kurdisch verwalteten Nordirak lebenden Christen diskriminiert werden und in den Stadträten der kurdisch kontrollierten Gebiete kein Stimmrecht haben. Danach hat die kurdische Verwaltung auch verhindert, dass die zweitgrößte Volksgruppe im Norden des Landes in den Genuss der Vorteile des "Öl für Nahrungsmittel-Programms", der UN-Wiederaufbauhilfe, der medizinischen Hilfe oder anderer Hilfsmaßnahmen gelangt.

Unter Gewichtung und Abwägung all dieser Umstände ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung eine Verfolgung des Klägers im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c) AufenthG durch nichtstaatliche Akteure bei einer Rückkehr in den Irak bereits deshalb anzunehmen ist, der Kläger der christlichen Minderheit des Landes angehört. Die von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufgestellten Voraussetzungen für eine Gruppenverfolgung sind - abgesehen von einer staatlichen Verfolgung - zu bejahen.

Es handelt sich hier um keine staatliche oder dem Staat zurechenbare Verfolgung, sondern um eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c) AufenthG.

Der derzeitige irakische Staat einschließlich internationaler Organisationen sind auch erwiesenermaßen nicht in der Lage, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.

Es besteht im Irak für Christen auch keine innerstaatliche Fluchtalternative. Zwar haben sich Christen zunächst in den Nordirak zurückgezogen. Aus den oben genannten Berichten ist zu entnehmen, dass sie aber auch zwischenzeitlich den Nordirak verlassen, zumal - wie oben dargestellt - auch im Nordirak Diskriminierungen und Benachteiligungen von Christen vorkommen.