BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 11.11.2004 - 2 BvR 1527/02 - asyl.net: M6187
https://www.asyl.net/rsdb/M6187
Leitsatz:

Zur Gewährung rechtlichen Gehörs. (Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, HADEP, Demonstrationen, Haft, Misshandlungen, Folter, Familienangehörige, Ehefrau, Sippenhaft, Sexuelle Übergriffe, Vergewaltigung, Traumatisierte Flüchtlinge, Psychische Erkrankung, Posttraumatische Belastungsstörung, Glaubwürdigkeit, Rechtliches Gehör
Normen: GG Art. 16a; GG Art. 103 Abs. 1
Auszüge:

Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das entscheidende Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfGE 11, 218 220>; 83, 24 35>; 86, 133 146>). Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass das Fachgericht das von ihm entgegengenommene Vorbringen der Beteiligten auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Auf eine Nichtberücksichtigung des Vortrags kann aber geschlossen werden, wenn das Gericht die wesentlichen der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung dienenden Tatsachenbehauptungen in den Gründen nicht verarbeitet, sofern der Vortrag nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert war (vgl. BVerfGE 47, 182 189>; 86, 133 146>).

Hieran gemessen verletzen die angegriffenen Urteile des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 28. November 2001 den Anspruch der Beschwerdeführer auf rechtliches Gehör.

Das Verwaltungsgericht hat in Bezug auf die Beschwerdeführerin zu 2. eine politische Verfolgung verneint, weil die Behauptung einer Vergewaltigung als gesteigertes Vorbringen der Glaubwürdigkeit der Beschwerdeführerin zu 2. entgegenstehe. Damit hat sich das Verwaltungsgericht über den Vortrag der Beschwerdeführerin zu 2. im Anhörungsverfahren vor dem Bundesamt hinweggesetzt, in dem sie von Anfang an detailliert über körperliche Übergriffe und Misshandlungen berichtet hat, die schon für sich genommen als politische Verfolgung angesehen werden können. Die Beschwerdeführerin zu 2. hat bereits im Anhörungsverfahren gegenüber dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge im Einzelnen dargelegt, dass sie von türkischen Sicherheitskräften anlässlich einer Hausdurchsuchung misshandelt worden sei. Sie berichtete, sie sei bei der Hausdurchsuchung im Unterhemd gewesen und von den Soldaten daran gehindert worden, sich umzuziehen. Sie sei als Frau schlecht behandelt worden. Die Soldaten hätten sie ins Schlafzimmer gezerrt und sie geschlagen, weil sie sie hätten vergewaltigen wollen. Ihre Kinder seien in ein anderes Zimmer gebracht worden. Diesen Vortrag ignoriert das Verwaltungsgericht, indem es den behaupteten sexuellen Missbrauch als vom übrigen Vortrag losgelöstes, "den Schwerpunkt der Verfolgung bildendes Ereignis" ansieht, obwohl die erst später gemachte Angabe, wonach ihr das Schlimmste widerfahren sei, was einer Frau passieren könne, an diesen Vortrag anknüpft, und indem es die Glaubwürdigkeit der Beschwerdeführerin zu 2. wegen (verspäteten) gesteigerten Vorbringens in Frage stellt, ohne auf die schon ursprünglich angegebenen Misshandlungen einzugehen.

Bei der Prüfung eines dem Beschwerdeführer zu 1. zustehenden Anspruchs aus § 51 Abs. 1 AuslG hat das Verwaltungsgericht dessen Vorbringen zu seiner politischen Betätigung als unerheblich angesehen.

Soweit das Verwaltungsgericht die Behauptung des Beschwerdeführers zu 1., er sei der Unterstützung der PKK verdächtigt worden, als gesteigertes Vorbringen ansieht, fehlt es an der gebotenen Auseinandersetzung damit, dass die Beschwerdeführerin zu 2. dies von Anfang an vorgetragen hat. Die Beschwerdeführerin zu 2. hat bereits in ihrer Anhörung beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ausführlich geschildert, dass die bis zur - zur Vermeidung weiterer Repressalien erfolgten - Ehescheidung gemeinsame Wohnung mehrfach von den Sicherheitskräften durchsucht worden sei, um des Beschwerdeführers zu 1. habhaft zu werden und sie in diesem Zusammenhang erheblichen Übergriffen ausgesetzt gewesen sei. Diesen Vortrag hätte das Verwaltungsgericht insbesondere deshalb einbeziehen müssen, weil es einerseits die vom Beschwerdeführer zu 1. geltend gemachte Gefahr weiterer Repressalien mit der Begründung verneint hat, er könne zu den von der Beschwerdeführerin zu 2. beschriebenen Wohnungsdurchsuchungen seit Ende 1997 aus eigenem Erleben nichts mitteilen, weil er sich nach der Scheidung Ende 1997 nicht mehr in der ehemals gemeinsamen Wohnung aufgehalten habe, und es andererseits in dem die Klage der Beschwerdeführerin zu 2. abweisenden Urteil ausdrücklich offen gelassen hat, ob die Sicherheitskräfte die Wohnung wegen des getrennt lebenden Ehemannes oder allein wegen der Ehefrau durchsucht hätten.