OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 04.02.2005 - 11 LA 17/05 - asyl.net: M6206
https://www.asyl.net/rsdb/M6206
Leitsatz:

§ 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG (nunmehr § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) erfasst auch die erhebliche konkrete Gefahr der Ermordung durch Familienangehörige wegen Heiratsverweigerung (sog. Ehrenmorde). (amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Türkei, Flüchtlingsfrauen, Abschiebungshindernis, Familienangehörige, Zwangsverheiratung, Heiratsverweigerung, Familienehre, Verfolgung durch Dritte, Mittelbare Verfolgung, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Strafrechtsreform, Schutzbereitschaft, Berufungszulassungsantrag, Grundsätzliche Bedeutung
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1; AufenthG § 60 Abs. 7; AuslG § 53 Abs. 6
Auszüge:

§ 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG (nunmehr § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) erfasst auch die erhebliche konkrete Gefahr der Ermordung durch Familienangehörige wegen Heiratsverweigerung (sog. Ehrenmorde). (amtlicher Leitsatz)

 

Der allein auf § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG gestützte Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das angefochtene Urteil bleibt erfolglos.

Die 1982 geborene und im Juli 2004 nach Deutschland eingereiste Klägerin möchte grundsätzIich geklärt wissen, "ob alleinstehende junge kurdische Frauen aus dem Südosten im Westen der Türkei vor einem drohenden "Ehrenmord" durch Familienangehörige wegen einer verweigerten Zwangsheirat sicher wären."

Für die Beantwortung dieser Frage bedarf es jedoch nicht der Durchführung eines Berufungsverfahrens.

In tatsächlicher Hinsicht ist - soweit das möglich ist - die von der Klägerin angesprochene Frage der sog. "Ehrenmorde" in der Türkei geklärt. Das Auswärtige Amt hat dazu in seinem letzten Lagebericht vom 19. Mai 2004 (S. 41) Folgendes ausgeführt: "Hauptsächlich im Südosten - aber nicht nur dort - kommt es zu sog. "Ehrenmorden", d.h. der Ermordung von Frauen oder Mädchen, die "schamlosen Verhaltens" verdächtigt werden, was nach Berichten über solche Fälle u.a. auch gegenüber vergewaltigten Frauen geschieht. Oft sind die Täter minderjährige Angehörige der eigenen Familie, die mit beträchtlichen Strafmilderungen oder sogar Straflosigkeit bei Unterschreiten der Altersgrenze rechnen konnten und de lege lata noch können. Besonderes Aufsehen erregte der Fall eines Ende Februar 2004 in Istanbul verübten Ehrenmordes,

als eine junge kurdischstämmige Frau (nach Entbindung ihres nicht ehelichen Kindes) von ihren minderjährigen Brüdern in einem Krankenhaus getötet wurde. Sie war nach einem ersten Mordversuch an ihr mit Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert worden, wo sie ihren minderjährigen Brüdern, die auf Anweisung des "Ältestenrats der Familie", der ein Todesurteil gegen die Frau zur "Wiederherstellung der befleckten Familienehre" aussprach, nicht entkommen konnte. Ministerpräsident Erdogan sprach von einer "Schande, die auf der Türkei lastet". Der Fall rückte den Fortbestand archaischer Praktiken im eigenen Land wieder deutlich ins Bewusstsein. Bisher ist es nicht gelungen, "Ehrenmorde" statistisch zuverlässig zu erfassen.

Mit dem Reformpaket vom 19.06.2003 wurde die allgemeine Strafminderungsmöglichkeit nach Art. 462 für Verbrechen, die zum Schutz der Familienehren begangen wurden, abgeschafft. Die auf "äußerste Provokation" als Strafminderungsmöglichkeit abzielende Vorschrift des Art. 51 StGB hat noch Bestand, soll aber im Zuge einer umfassenden Strafrechtsreform noch in diesem Jahr abgeschafft werden. Der von der Regierung vorgelegte Reformentwurf soll noch überarbeitet werden, da einige Regelungen auf deutlichen Protest stießen. Entgegen des Gleichbehandlungsgrundsatzes sollen Verbrechen gegen Frauen nicht allein als Verbrechen, sondern auch unter dem Aspekt der Moral und Familienehre behandelt werden. So soll z.B. ein Vergewaltiger straffrei ausgehen, wenn er danach sein Opfer heiratet. Auch wird bei der Strafverfolgung und der Strafandrohung danach differenziert, ob das Opfer Jungfrau war oder nicht. Inzest, sexuelle Belästigung und Vergewaltigung in der Ehe finden bislang im Entwurf keine Berücksichtigung."

Weitergehende oder andere Erkenntnisse enthalten auch nicht die von der Klägerin im Zulassungsverfahren zitierten Berichte in amnesty international-Journal vom Juni 2004 und "Rheinischer Merkur" vom 30.09.2004. Der Senat sieht deshalb grundsätzlichen Klärungsbedarf weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht.