VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 28.01.2005 - 12 K 73/04.A - asyl.net: M6219
https://www.asyl.net/rsdb/M6219
Leitsatz:

Psychische Erkrankungen in Ägypten behandelbar; § 60 Abs. 7 AufenthG wegen Gefahr der Retraumatisierung einer Frau, die wegen Übergriffen durch Islamisten an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet.

 

Schlagwörter: Ägypten, Posttraumatische Belastungsstörung, Psychische Erkrankung, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Retraumatisierung, Zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Psychische Erkrankungen in Ägypten behandelbar; § 60 Abs. 7 AufenthG wegen Gefahr der Retraumatisierung einer Frau, die wegen Übergriffen durch Islamisten an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Beklagte wird unter entspechender Aufhebung des Bescheides vom 16.11.2000 verpflichtet, festzustellen, dass einer Abschiebung der Klägerin nach Ägypten ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegensteht.

Bei der Klägerin besteht eine posttraumatische Belastungsstörung, die auf Erlebnisse vor ihrer Ausreise in Ägypten maßgeblich zurückzuführen ist. Nach ihrem durchgängigen Vortrag im Verwaltungs- und Klageverfahren, an dem sie auch gegenüber dem Sachverständigen festgehalten hat, ist die Klägerin in Ägypten Belastungen und Bedrohungen durch Islamisten ausgesetzt gewesen, wobei die Firma ihres Ehemannes und zweimal ihr eigener Friseursalon zerstört worden seien. Islamistische Frauen hätten sie einmal geschlagen und getreten und sie sei von diesen Frauen angezeigt worden, Goldkettchen gestohlen zu haben, damit sie selbst keine Anzeige habe machen können. Soweit der Sachverständige auf dieser Grundlage bei der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung mittelgradiger Ausprägung diagnostiziert hat, bestehen an der Richtigkeit dieser Einschätzung aus Sicht der Kammer keine Zweifel.

Zwar ist die Klägerin aktuell offensichtlich auch durch inlandsbezogene Faktoren - z. B. eine im Juni letzten Jahres diagnostizierte bösartige Schilddrüsenerkrankung - beeinträchtigt. Als belastend empfindet sie nach der Wertung des Gutachters zudem die Wohnsituation in der Gemeinschaftsunterkunft, zumal dort offenbar ähnliche Probleme mit Moslems auftreten wie in Ägypten, und ihren ungeklärten Aufenthaltsstatus. Aus Sicht der Kammer kann aber nicht angenommen werden, dass die Erkrankung der Klägerin vorrangig - oder gar ausschließlich - durch Erfahrungen bzw. Ereignisse in der Bundesrepublik Deutschland ausgelöst wurde; diese stellen vielmehr lediglich eine zusätzliche Belastung dar, welche zur Zunahme der depressiven und ängstlichen Stimmung bei der Klägerin führt.

Im Weiteren gilt dann zwar grundsätzlich, dass die der Kammer zu dem Gesundheitswesen in Ägypten vorliegenden Auskünfte (vgl. etwa Deutsche Botschaft Kairo an VG Oldenburg vom 11.09.2001 sowie Deutsches Orient Institut an VG Oldenburg vom 19.12.2001; Nrn. 284 und 285 der DOK Ägypten) keine Anhaltspunkte für die Annahme liefern, psychische Erkrankungen seien in Ägypten nicht behandelbar. Ebenso wenig kann angenommen werden, die Klägerin könnte eine psychotherapeutische Behandlung - die sie mittlerweile hier wieder aufgenommen hat - in Ägypten aus finanziellen Gründen nicht erreichen. Bei ihrer informatorischen Befragung durch das Gericht in der mündlichen Verhandlung am 16.03.2004 hat die Klägerin nämlich erklärt, sie stehe in telefonischer Verbindung mit ihrer Familie, der es wirtschaftlich gut gehe. Insoweit kann von der Klägerin verlangt werden, auf finanzielle Unterstützung durch ihre Familie zurückzugreifen.

Was die posttraumatische Belastungsstörung mit derzeit mittlerer Ausprägung angeht, ist die Kammer allerdings entsprechend dem Gutachten des Sachverständigen davon überzeugt, dass sich diese Erkrankung mit hoher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr drastisch verschlechtern wird. Soweit der Sachverständige diese Prognose im Wesentlichen darauf stützt, dass die Rückkehr nach Ägypten bei der Klägerin mit ausgeprägten Angstvorstellungen besetzt sei, genügt dies vor dem Hintergrund der von der Klägerin glaubhaft geschilderten Vorgeschichte in Ägypten, um ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindemis anzunehmen (vgl. im Ergebnis ähnlich Urteil der Kammer vom 06.10.2004 - 12 K 71/04.A - unter dem Aspekt einer Retraumatisierung bzw. einer Chronifizierung des Krankheitsbildes).

Die Kammer teilt mithin nicht die Auffassung der Beklagten, dass die in dem Gutachten befürchtete drastische Gesundheitsverschlechterung bei Rückkehr nur im Zusammenhang mit der Abschiebungssituation gesehen werden könne, wobei es Aufgabe der Ausländerbehörde wäre, dem entgegenwirkende geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Vielmehr ist die Kammer der Auffassung, dass vor einer hinreichenden psychischen Stabilisierung in einem von der Klägerin als sicher empfundenen Umfeld eine wesentliche Verschlechterung der posttraumatischen Belastungsstörung eintreten wird, was auch durch eine in Ägypten alsbald einsetzende Behandlung nicht verhindert werden könnte (vgl. dazu, dass die Verschlechterung einer leicht bis mittelgradig ausgeprägten posttraumatischen Belastungsstörung eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes darstellt, Urteil der Kammer vom 15.10.2004 - 12 K 174/03.A - betreffend eine bosnische Staatsangehörige).