VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12.01.2005 - 7 S 1769/02 - asyl.net: M6245
https://www.asyl.net/rsdb/M6245
Leitsatz:

§ 2 Abs. 1 AsylbLG setzt keinen ununterbrochenen Bezug von Leistungen nach § 3 AsylbLG für 36 Monate voraus; die Frist begint nur bei nachhaltigen und tiefgreifenden Unterbrechungen erneut zu laufen, etwa einer endgültigen Ausreise, nicht aber bei einer nur vorübergehenden Ausreise.

 

Schlagwörter: Jugoslawen, Kosovo, Ashkali, Ägypter, Asylbewerberleistungsgesetz, Abgelehnte Asylbewerber, Duldung, Freiwillige Ausreise, BSHG, Abgelehnte Asylbewerber, Duldung, Freiwillige Ausreise, Zumutbarkeit, 36-Monats-Frist, Unterbrechungen, Auslegung
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1; AsylbLG § 3
Auszüge:

§ 2 Abs. 1 AsylbLG setzt keinen ununterbrochenen Bezug von Leistungen nach § 3 AsylbLG für 36 Monate voraus; die Frist begint nur bei nachhaltigen und tiefgreifenden Unterbrechungen erneut zu laufen, etwa einer endgültigen Ausreise, nicht aber bei einer nur vorübergehenden Ausreise.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Bescheide des Beklagten vom 14.09.2000 und der Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Tübingen vom 04.01.2001 sind rechtswidrig. Die Kläger 2 bis 4 haben für den Zeitraum 01.06.2000 bis zum 04.01.2001 einen Anspruch auf die Bewilligung von Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG in gesetzlicher Höhe. Den Klägern stehen die begehrten höheren Leistungen zu. Gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG haben Leistungsberechtigte Anspruch auf Hilfe in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BSHG, die über die Dauer von insgesamt 36 Monaten, frühestens beginnend am 1. Juni 1997 Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten haben, wenn die Ausreise nicht erfolgen kann und aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, weil humanitäre, rechtliche oder persönliche Gründe oder das öffentliche Interesse entgegenstehen.

Die Kläger 2 bis 4 erfüllen unstreitig die Wartezeit von 36 Monaten. Entgegen der Auffassung des Beklagten und des Verwaltungsgerichts erfüllt auch der Kläger 1 die Wartezeit von 36 Monaten - allerdings erst ab einem späteren Zeitpunkt.

Der Beklagte hat den Antrag des Klägers 1 auf Bewilligung von Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG auch deshalb abgelehnt, weil dieser die Wartezeit von 36 Monaten nicht ohne Unterbrechung absolviert habe. Ein solches Erfordernis kann der gesetzlichen Regelung aber nicht entnommen werden. Gegen eine solche Auslegung spricht schon der Wortlaut von § 2 Abs. 1 AsylbLG, der einen Leistungsbezug "über eine Dauer von insgesamt 36 Monaten" verlangt. Hätte der Gesetzgeber einen ununterbrochenen Leistungsbezug von 36 Monaten verlangen wollen, hätte eine andere Formulierung nahe gelegen. Der Zusatz "insgesamt" spricht zunächst klar dafür, dass verschiedene zeitliche Phasen des Leistungsbezugs zusammen zu rechnen sind (so auch OVG Bremen NordÖR 2003, 379).

Dem Gesetzeswortlaut kann auch nicht entnommen werden, dass eine solche Saldierung nur bei Leistungsunterbrechungen, die im Inland erfolgen, vorzunehmen sei und bei Ausreise und Wiedereinreise in das Bundesgebiet die 36-Monats-Frist jeweils neu zu laufen beginnt (in diesem Sinne aber Birk in lPK-BSHG, 6. Aufl., § 2 AsylbLG Rdnr. 2).

Die Kläger erfüllen auch die übrigen Voraussetzungen ds § 2 Abs. 1 AsylbLG; insbesondere konnte ihnen nicht zugemutet werden, im maßgeblichen Zeitraum freiwillig in ihr Heimatland zurück zu kehren.

Dieser Bewertung stehen zunächst nicht die im Verfahren der Kläger getroffenen ausländerrechtlichen Entscheidungen entgegen. Denn die Lage- und Risikoeinschätzung im ausländerrechtlichen Verfahren präjudiziert das Verfahren nach dem AsylblG nicht. Der Beklagte ist bei seiner Entscheidung, ob die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 AsylblG vorliegen, zu einer eigenständigen Bewertung und Risikoeinschätzung berufen und befugt.

Nach der Rechtsprechung des BVerwG entfalten die ausländerbehördlichen Feststellungen im leistungsrechtlichen Verfahren nach § 2 Abs. 1 AsylblG mangels ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung keine Bindungswirkung, so dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 AsylblG von der zuständigen Leistungsbehörde zu prüfen sind (BVerwG NVwZ 2004, 491). Hieraus folgt nach der Rechtsprechung des BVerwG zwar nicht, dass die in § 2 Abs. 1 AsylblG genannten Gründe abweichend vom Ausländerrecht ausgelegt werden dürfen. Denn die selbständige Pflicht und Befugnis der Leistungsbehörde zur Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 2 Abs. 1 AsylblG berechtigen diese nicht, bei einem lediglich geduldeten, also ausreisepflichtigen Ausländer tatsächlich und abweichend vom ausländerrechtlichen Status von einem (faktisch) dauerhaften Bleiberecht auszugehen und damit eine vom Ausländerrecht unabhängige leistungsrechtliche Bewertung vorzunehmen.

Im Rahmen der derart umschriebenen Zuständigkeit hat die Leistungsbehörde aber alle Umstände in den Blick zu nehmen, die eine Ausreise als unzumutbar erscheinen lassen. Sie muss den Hilfefall selbst regeln und kann den Ausländer nicht vorrangig an die Ausländerbehörde verweisen oder ihre Entscheidung ohne eigene Sachprüfung auf ausländerrechtliche Entscheidungen stützen. Denn das AsylblG ist nicht lediglich Annex der ausländerrechtlichen Bestimmungen, sondern in erster Linie Leistungsgesetz und hat sich von daher auch an der Hilfesituation unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu orientieren.

Den Klägern war eine Rückkehr in das Kosovo nicht zumutbar, weil sie als Angehörige der Ägypter (Ashkali) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in eine konkrete Gefahr für Leib und Leben gekommen wären. Die zuvor ergangenen ausländerrechtlichen Lageeinschätzungen und die Lageeinschätzung durch das Verwaltungsgericht erweisen sich im Lichte der tatsächlichen politischen Entwicklung im Kosovo als unzutreffend. Der Senat geht davon aus, dass den Klägern konkrete Gefahren für Leib und Leben gedroht hätten, und dass eine Verbesserung der Sicherheitssituation im Kosovo nur scheinbar oder jedenfalls nur vorübergehend erfolgt war.

Es kann dahin stehen, ob bereits vor den Ereignissen im März 2004 gewichtige Gründe im Sinne einer konkreten Gefahrenlage gegen eine Abschiebung bzw. Rückführung von Ashkali in das Kosovo bestanden (so z.B. die Einschätzung von Nicolaus von Holtey von Pax Christi, Heidelberg in seinem Bericht vom 01.04.2004 oder die Stellungnahme der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 24.05.2004 "Update zur Situation der ethnischen Minderheiten nach den Ereignissen, vom März 2004", S. 13), jedenfalls haben die Unruhen im März 2004 bewiesen, dass für Angehörige der Ashkali im Kosovo eine Situation bestand, die als extreme Gefahrenlage bezeichnet werden kann.