VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 13.12.2004 - 13 S 1276/04 - asyl.net: M6258
https://www.asyl.net/rsdb/M6258
Leitsatz:

Im Falle einer Anspruchseinbürgerung ist die Entscheidung der Einbürgerungsbehörde darüber, ob sich ein Ausländer von früheren staatsfeindlichen Bestrebungen abgewandt hat, gerichtlich voll überprüfbar.(Leitsatz der Redaktion)

 

Schlagwörter: D (A), Türken, Einbürgerung, Anspruchseinbürgerung, FDGO, Verfassungsfeindliche Bestrebungen, Exilpolitische Betätigung, MLKP, Abwendung von verfassungsfeindlichen Bestrebungen, Beurteilungszeitpunkt, Berufungszulassungsantrag, Ernstliche Zweifel, Grundsätzliche Bedeutung
Normen: AuslG § 85; AuslG § 86 Nr. 2; VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1; VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 3
Auszüge:

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Der rechtzeitig gestellte (§ 124a Abs. 4 Satz 1 VwGO) und mit Gründen versehene (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) Antrag auf Zulassung der Berufung hat sachlich keinen Erfolg; die geltend gemachten Zulassungsgründe (ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung, s. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, und grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, s. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) sind nicht gegeben.

Soweit die Beklagte rügt, die vom Kläger erst im Gerichtsverfahren vorgetragenen Umstände zur Frage der Abwendung von seinen früheren Zielen und Bestrebungen seien unbeachtlich, da es ausschließlich auf seine Erklärungen und die Sachlage zum Zeitpunkt der angefochtenen behördlichen Entscheidung ankomme und der Behörde insofern ein Beurteilungsspielraum zustehe, führt dieses Vorbringen bereits deshalb nicht zu der von der Beklagten erstrebten Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung und Abweisung der auf die Einbürgerung des Klägers gerichteten Klage, weil der Ausgangspunkt der rechtlichen Rüge nicht zutrifft.

Es geht bei § 86 AuslG um die Frage, ob aus bestimmten Gründen ein grundsätzlich gegebener Einbürgerungsanspruch ausscheidet, nicht aber darum, nach welchen Kriterien und auf welcher Sachverhaltsgrundlage die Einbürgerungsbehörde das Verhalten des Ausländers im Rahmen einer von vornherein nur möglichen Ermessensentscheidung zu bewerten hat. Daraus folgt, dass die Frage, ob ein Ausschlussgrund i.S. des § 86 Nr. 2 AuslG vorliegt oder nicht, gerichtlich ebenso in vollem Umfang zu überprüfen ist wie die eigentlichen Anspruchsvoraussetzungen des § 85 AuslG. Zwar enthält der Begriff der "Abwendung" auch wertende und prognostische Elemente; dies rechtfertigt es aber nicht, der Behörde - mit der Konsequenz entsprechender Vorverlagerung des maßgebenden Zeitpunkts - insoweit einen Beurteilungsspielraum einzuräumen. Dessen bedarf es bereits deswegen nicht, weil das Gesetz mit dem Erfordernis der "Glaubhaftmachung" selbst einen Prüfungs- und Entscheidungsmaßstab für das behördliche und gerichtliche Verfahren festgelegt hat. Für die Subsumtion des Ausschlusstatbestandes - und seiner Überwindung durch Glaubhaftmachung einer Abwendung - ist damit mangels entsprechender anderslautender Regelung der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung maßgebend (vgl. dazu auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 11.07.2002, a.a.O.; ebenso wohl auch Bay. VGH, Urteil vom 27.05.2003 - 5 B 00.1819 - juris).

Soweit die Beklagte im Fall des Klägers die Voraussetzungen einer "Abwendung" im Sinne der genannten Vorschrift bestreitet, stellt sie die verwaltungsgerichtliche Entscheidung gleichfalls nicht durchgreifend in Frage. Das Verwaltungsgericht hat sich bei der Subsumtion unter diesem Begriff an der Rechtsprechung des Senats (Urteil vom 11.07.2002 a.a.O.) und an der Literatur (Berlit in GK- Staatsangehörigkeitsrecht, a.a.O. RdNr. 143 und 146) orientiert; insofern werden durch die Beklagte auch keine grundsätzlichen Bedenken erhoben. Grundlage für die Annahme einer Abwendung des Klägers von seinen früher verfolgten Zielen und Aktivitäten für den Immigranten- Arbeiter-Kulturverein waren für das Verwaltungsgericht nicht nur die insofern noch unvollständigen und auch zeitlich früher liegenden Erklärungen des Klägers im Verwaltungsverfahren, sondern auch seine Außerungen im Gerichts- (verfahren) und der Eindruck, den sich das Gericht in der mündlichen Verhandlung von dem Kläger gebildet hat; es ging der Kammer insofern um eine Gesamtwürdigung des Klägers, in die zahlreiche Faktoren eingeflossen sind. So ist der Kläger aus dem Vorstand des Immigranten-Arbeiter-Kulturvereins im (...) ausgeschieden; an den Aktivitäten dieses Vereins beteiligte er sich nicht mehr, und seit (...) gibt es auch keine neuen Erkenntnisse über sonstige politische Aktivitäten des Klägers. Die von dem Kläger in der mündlichen Verhandlung abgegebene Erklärung zur Wandlung seiner Überzeugungen ist auch für den Senat durchaus stichhaltig und nachvollziehbar; der Kläger befindet sich gegenüber seiner früheren Situation durch Vermögensbildung und Familiengründung in einer völlig anderen persönlichen und wirtschaftlichen Lage, und er hat zudem detailliert vorgetragen, inwiefern ihm auch die weltpolitische Entwicklung, insbesondere das Scheitern des Kommunismus in Kuba und Russland, die Augen geöffnet habe. Dass ein Einbürgerungsbewerber seiner früheren Vergangenheit oder seinen früheren Auffassungen in vollem Umfang sozusagen "abschwört" und erklärt, er habe auch in der Vergangenheit zu keinem Zeitpunkt die richtige Auffassung vertreten, ist für die Glaubhaftmachung einer Abwendung im Sinne von § 86 Nr. 2 AuslG nicht zu verlangen; veränderte Rahmenbedingungen können durchaus eine "Abwendung" einleiten oder belegen (siehe dazu Berlit a.a.O. RdNr. 144.1 zu § 86).

Hinzu kommt, dass es im Rahmen der genannten Vorschrift im Hinblick auf die (lediglich) erforderliche Glaubhaftmachung genügt, wenn der Einbürgerungsbewerber die Umstände, die seine Abwendung belegen, so substantiiert und einleuchtend darlegt, dass man diese Gründe als "triftig" anerkennen kann (Berlit a.a.O. RdNr. 146); Nachvollziehbarkeit der Erklärung im Hinblick auf einen inneren Gesinnungswandel kann insbesondere dann genügen, wenn dieser auch durch äußere Handlungen nach Außen hin erkennbar wird. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht in diesem Zusammenhang auch berücksichtigt, dass inzwischen erhebliche Zeit zwischen den einbürgerungsschädlichen Aktivitäten des Klägers (...) vergangen ist; dies setzt die Anforderungen an die Glaubhaftmachung innerer Lernprozesse zusätzlich herab (siehe Berlit a.a.O. RdNr. 154). Der Senat hat dabei keine Anhaltspunkte zu der Annahme, die Erklärungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht seien nicht glaubhaft gewesen; es ist insbesondere nachvollziehbar, dass die Lösung des Klägers vom Immigranten-Arbeiter-Kulturverein auch wegen der in der Regel intensiven Gruppenbindung von Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland ein längerer Prozess war. Die neue familiäre und wirtschaftliche Situation des Klägers war nach Auffassung des Verwaltungsgerichts nur einer der durchaus nachvollziehbaren Faktoren, die zu einer Abwendung von kommunistischen Zielen und Idealen geführt haben; hinzu gekommen ist eine zunehmend realistische Sicht des Klägers auf die politischen Ziele des Kommunismus und seine Verwirklichungschancen sowie auf die politische Situation in der Bundesrepublik Deutschland, mit der sich der Kläger zunehmend befasst hat. Sein Hinweis auf die Möglichkeit eines grundlegenden Wandels politischer Einstellungen auch bei deutschen Politikern zeigt, dass der Kläger sich mit den Fragen der lebensprägenden Kontinuität von Weltanschauungen und politischen Auffassungen auch konkret auseinander gesetzt hat und dass er seine eigene jetzige Situation im Vergleich zu seinen früheren Auffassungen nicht als "Verrat", sondern als positive und konsequente Entwicklung ansieht.

Schließlich ist auch der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124Abs. 2 Nr. 3 VwGO) nicht gegeben; die von der Beklagten aufgeworfene Rechtsfrage, ob allein die von dem Kläger vorgebrachten Gründe zur Glaubhaftmachung der Abwendung eines Einbürgerungsbewerbers von den der Einbürgerung entgegen stehenden Bestrebungen nach § 86 Nr. 2 AuslG ausreichen, ist auf den Einzelfall bezogen und nicht von grundsätzlicher Bedeutung, zumal die für die Annahme einer "Abwendung" im Sinne von § 86 Nr. 2 AuslG maßgebenden Kriterien bereits in Rechtsprechung und Literatur grundsätzlich geklärt sind.