VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 04.10.2004 - 12 UE 1947/04 - asyl.net: M6259
https://www.asyl.net/rsdb/M6259
Leitsatz:

Zum Vorliegen eines Ausnahmefalles bei der Regel-Ausweisung. (Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Albaner, Ausweisung, Straftäter, Drogendelikte, Klagebefugnis, Ehegatte, Kinder, Regelausweisung, Atypischer Ausnahmefall, Familienangehörige, Deutsche Kinder, Strafhaft, Freigänger, Ermessen, Spezialprävention, Wiederholungsgefahr
Normen: VwGO § 42 Abs. 2; GG Art. 6 Abs. 1; AuslG § 47 Abs. 2; AuslG § 47 Abs. 3; AuslG § 48 Abs. 1 Nr. 4
Auszüge:

Die Berufung der Kläger ist statthaft, begründet ist jedoch nur die Berufung der Kläger zu 1 und zu 2.

Die Klage der Klägerin zu 3 ist wegen Fehlen der Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO) unzulässig. Zwar ergibt sich aus Art. 6 Abs. 1 GG die Klagebefugnis des Ehegatten gegen die Ausweisung des Ehepartners (BVerwG, 03.05.1973 - 1 C 20.70 BVerwGE 42,141, 142; GK-AuslR, § 45 AuslG Rdnr. 865 m.w.N.). Erforderlich ist hierzu jedoch, dass der Ehegatte sein Interesse an der Aufrechterhaltung der familiären Lebensgemeinschaft mit dem ausgewiesenen Ehegatten, das durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützt wird, geltend macht. Aufgrund der Beteiligtenvernehmung der Klägerin zu 3 im Berufungsverfahren ist jedoch deutlich geworden, dass die Klägerin zu 3 dieses Interesse gerade nicht geltend macht. Sie lebt getrennt vom Kläger zu 1 und hat auch kein Interesse an der Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft. Soweit die Klägerin zu 3 ein Interesse daran geltend macht, dass der Kläger zu 2 weiterhin von seinem Vater betreut werden kann, weil dies im besten Interesse des Kindes sei, macht sie Rechte des Klägers zu 2 geltend. Zur Wahrnehmung seiner eigenen Rechte ist jedoch der Kläger zu 2, vertreten durch seine Eltern, selbst klagebefugt.

Die Berufung der Kläger zu 1 und zu 2 ist begründet.

Die Ausweisung kann nicht als zur Regelausweisung herabgestufte "Ist-Ausweisung" auf die §§ 47 Abs. 1 Nr. 2, 47 Abs. 3, 48 Abs. 1 Nr. 4 AuslG gestützt werden, weil ein Ausnahmefall vorliegt.

Dies ergibt sich hier aus dem kumulativen Vorliegen einer besonders günstigen Prognose hinsichtlich der Begehung weiterer Straftaten bereits zum Zeitpunkt des Ergehens des Widerspruchsbescheides und der besonders einschneidenden Folge der Ausweisung (§ 45 Abs. 2 Nr. 2 AuslG) für das Kind deutscher Staatsangehörigkeit, den Kläger zu 2.

Bis zu seiner Verurteilung im Jahre (...) wegen unerlaubter Einfuhr in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Kokain in nicht geringer Menge war der Kläger strafrechtlich lediglich wegen kleinerer und nicht gleichartiger Delikte ("Schwarzfahren", Gewässerverunreinigung, Diebstahl, Beteiligung an einer Schlägerei, Fahren ohne Fahrerlaubnis) hervorgetreten. Wegen des zur Ausweisungsverfügung führenden Kokainhandels hatte sich der Kläger zu 1 etwa sechs Monate in Untersuchungshaft befunden und erhielt dann bereits einen Monat nach Strafantritt im (...) Freigängerstatus. Er arbeitete tagsüber in Vollzeit bei einer Getränkefirma, verbrachte die Zeit nach Arbeitsschluss bis etwa 21.00 Uhr fast ausschließlich bei seinem Kind, dem Kläger zu 2, und kehrte abends gegen 22.00 Uhr erst in die Haftanstalt zurück. Diese Umstände, besonders der Freigängerstatus bereits kurz nach Haftantritt, stellen bereits ein deutliches Indiz dafür dar, dass seitens der Strafvollzugsbehörden die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten durch den Kläger zu 1 bereits im Jahre (...) als ausgesprochen gering angesehen wurde.

Zum Zeitpunkt des Ergehens des Widerspruchsbescheides im November 2002 hatte der Kläger nicht nur nahezu die gesamte Zeit seiner Strafhaft beanstandungsfrei als Freigänger verbracht, sondern hatte darüber hinaus auch nach Entlassung aus der Haft im (...) die Verantwortung für sein Kind übernommen, indem er etwa seit diesem Zeitpunkt den Kläger zu 2 alleine betreut hat.

Insgesamt lässt sich somit feststellen, dass die Prognose der Begehung weiterer Straftaten durch den Kläger zu 1 zum maßgeblichen Zeitpunkt des Ergehens des Widerspruchsbescheides nicht nur günstig, sondern außerordentlich günstig war. Damit war im vorliegenden Fall auch eine eventuelle "Vermutung", dass bei Betäubungsmitteldelikten eine besonders hohe Rückfallgefahr besteht, als widerlegt anzusehen, zumal der Kläger nie selbst drogenabhängig gewesen war und an einem einzigen Drogengeschäft beteiligt.

Die Folgen der Ausweisung des Klägers zu 1 für den Kläger zu 2 sind außergewöhnlich gravierend. Auszugehen ist zunächst davon, dass der Kläger zu 2 und seine Mutter deutsche Staatsangehörige sind und deshalb die Führung einer familiären Lebensgemeinschaft in Albanien grundsätzlich nicht in Betracht kommt. Atypisch ist die Situation vorliegend besonders deshalb, weil die Betreuung des Klägers zu 2 bereits seit dem Jahre (...) allein durch den Kläger zu 1 erfolgt ist und der Erziehungsbeitrag der Mutter sich auf Wochenendbesuche beschränkt. Dadurch besteht eine besonders enge Beziehung des Klägers zu 2 zu seinem Vater und eine Betreuung durch die Mutter wird von dieser weder gewünscht noch wäre sie ohne organisatorische Schwierigkeiten möglich.

Begründen diese Umstände insgesamt das Vorliegen eines Ausnahmefalles, wäre über die Ausweisung des Klägers zu 1 nach Ermessen zu entscheiden gewesen. Ermessenserwägungen auf der Grundlage der Annahme eines Ausnahmefalles finden sich jedoch weder im Ausgangsbescheid noch im Widerspruchsbescheid.