VG Göttingen

Merkliste
Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 11.01.2005 - 2 A 145/04 - asyl.net: M6317
https://www.asyl.net/rsdb/M6317
Leitsatz:

Keine staatliche oder nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Yeziden im Irak.

 

Schlagwörter: Irak, Jesiden, Verfolgung durch Dritte, Mittelbare Verfolgung, Islamisten, Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte, Religiös motivierte Verfolgung, Nichtstaatliche Verfolgung, Politische Entwicklung, Machtwechsel, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Sicherheitslage, Versorgungslage, Allgemeine Gefahr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Keine staatliche oder nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Yeziden im Irak.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Auch ein Anspruch auf Feststellung seiner Flüchtlingseigenschaft steht dem Kläger nicht zur Seite. Eine vom irakischen Staat ausgehende Verfolgung in diesem Sinne droht dem Kläger nicht.

Mit den veränderten politischen Gegebenheiten hat sich die Verfolgungssituation des Klägers von Grund auf geändert. Der in der Vergangenheit in der überwiegenden Anzahl der asylrechtlichen Schicksale vorgenommenen Anknüpfung an die Asylantragserteilung und den langjährigen Auslandsaufenthalt ist mit dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein der Boden entzogen. Die frühere Verfolgungsstituation gerade durch diese asylbegründenden Umstände ist vielmehr in ihr Gegenteil verkehrt worden. Die bei der Anhörung des Klägers zum Ausdruck gebrachte Gegnerschaft zum Regime Saddam Hussein würde den Kläger nunmehr eher gegenteilig sogar gerade zum Träger bzw. zum Freund der jetzigen und das aktuelle Tagesgeschehen bestimmenden politischen Kräfte machen.

Neuere Erkenntnisse bestätigen die Annahme, dass eine Rückkehr zu den alten Machtverhältnissen ausgeschlossen ist (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 24. Mai 2004, Stand: April 2004; Deutsches Orient Institut, Stellungnahme an das VG Regensburg vom 27. Oktober 2003; Beschluss des OVG Greifswald m 02.04.2004 -2 L 269/02-; Beschluss des VGH Baden-Württemberg vom 26.04.2004 -A 2 S 172/02-). Die aktuelle politische Entwicklung im Irak hält sich im Rahmen der o.a. politischen Zielvorgaben, beschleunigt den Übergang zu einem souveränen irakischen Staat gar, der nichts mehr mit dem Vorgängerregime gemein hat.

Diese Aussagen beanspruchen auch für yezidische Religionsangehörige wie den Kläger Geltung. Denn eine staatliche politische Verfolgung von nichtmoslemischen Minderheiten findet im Irak derzeit nicht statt (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes Stand: Oktober 2004; Auskunft an das OVG Greifswald vom 15.10.2003; DOI an VG Regensburg vom 27.10.2003; VGH München, Beschluss vom 25.3.2004 -13a B 03.30956-, betr. Yeziden; OVG Greifswald, Beschluss vom 7.5.2004 -2 L 336/02-, betr. religiöse Minderheiten allgemein; VG Freiburg, Urteil vom 12.05.2004 -7 K 11940/02, betr. Yeziden). Das Gericht hat derzeit keine Veranlassung von dieser Einschätzung abzuweichen. Soweit sich das VG Köln veranlasst gesehen hat, zu der Frage einer etwaigen politisch motivierten Verfolgung der Yeziden im Irak Beweis zu erheben (Az.: 18 K 8648/01.A) vermag das erkennende Gericht hierfür keine hinreichende Tatsachengrundlage zu erkennen.

Eine Erweiterung hat der Flüchtlingsschutz durch § 60 Abs. 1 AufenthG u.a. jedoch insoweit erfahren, als er auch durch eine Verfolgung seitens nichtstaatlicher Organisationen begründet werden kann. Insoweit dürfen die auch vom Kläger beschriebenen vereinzelten Übergriffe gegen Yeziden allein wegen ihrer Religionszugehörigkeit, die von radikalen Islamisten ausgehen, nicht von vornherein aus der rechtlichen Betrachtung ausgeblendet werden.

Über die Erweiterung der Verfolgungssubjekte hinaus, hat der Gesetzgeber des Aufenthaltsgesetzes jedoch mit der Neuregelung in § 60 Abs. 1 AufenthG - abgesehen von der hier nicht einschlägigen geschlechtsspezifischen Verfolgung - keine weitere Änderung der Voraussetzungen für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft herbeiführen wollen. Die Kammer legt daher bei der Auslegung des § 60 Abs. 1 AufenthG im Hinblick auf die hier inmitten stehende Frage, ob der Kläger allein wegen seiner Zugehörigkeit zur yezidischen Religionsgemeinschaft einer (nichtstaatlichen) politischen Verfolgung ausgesetzt ist, die zu ( Art. 16 a Abs. 1 GG und § 51 Abs. 1 AuslG a.F.) ergangene Rechtsprechung zu den Voraussetzungen einer Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe zugrunde.

Die Bevölkerungszahl des Irak wird von irakischer Seite mit ca. 23 Millionen angegeben (www. auswaertiges-amt.de/www/de/laenderinfos). Der yezidische Bevölkerungsanteil beläuft sich auf 0,75 bis 2 % der Bevölkerung (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes Stand: Oktober 2004; Kurdische Studien, Seite 1). Legt man zugunsten des Klägers den geringsten angenommenen Bevölkerungsanteil von 0,75 % zugrunde, ergibt sich eine Bevölkerungszahl von 172.500. Gemessen an der Größe dieser Bevölkerungszahl sind die in den Kurdischen Studien dargestellten Übergriffe von Bedrohung, Einschüchterung, Anschlägen bis hin zu Mord von bzw. an yezidischen Religionszugehörigen zahlenmäßig so gering, dass nicht davon gesprochen werden kann, dass jeder Angehörige dieser Gruppe aktuell und konkret mit einer Gefährdung seiner Person zu rechnen hat. Dabei geht die Kammer trotz der in den Kurdischen Studien auf Seiten 12 und 18 genannten Unsicherheit, ob alle Übergriffe allein an die Religionszugehörigkeit anknüpfen, zugunsten des Klägers davon aus, dass dem so ist. Referiert werden in den Kurdischen Studien neun Morde, ca. zehn Anschläge, ca. weniger als 100 konkrete und einige durch Flugblätter verbreitete allgemeine Morddrohungen. An einer mittelbaren Gruppenverfolgung kann in Anbetracht dessen - noch - nicht ausgegangen werden. Vielmehr treffen diese Übergriffe die Yeziden ebenso wie die Angehörigen anderer religiöser Minderheiten oder Moslems unterschiedlicher Glaubensausrichtung eher zufällig.

Schließlich liegen die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 AufenthG nicht vor.

Soweit nahezu im gesamten Irak noch eine mehr oder weniger instabile Sicherheitslage (S. 8 ff. d. Lageberichte des Auswärtigen Amtes v. 6. November 2003) festzustellen ist, insbesondere mit der Gefahr terroristischer Anschläge zu rechnen ist, sind dadurch bedingte Gefahren nur allgemeiner Natur.

Nach den vorliegenden Erkenntnisquellen kann auch im Hinblick auf die Versorgungslage im Irak nicht von einer (extremen) existenziellen Gefährdung einzelner Rückkehrer ausgegangen werden.