VG Regensburg

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Zitieren als:
VG Regensburg, Urteil vom 17.01.2005 - RN 3 K 04.30839 - asyl.net: M6328
https://www.asyl.net/rsdb/M6328
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Christen, Araber, Mittelbare Verfolgung, Nichtstaatliche Verfolgung, Anschläge, Übergriffe, Verfolgungsdichte, Gruppenverfolgung, Nachfluchtgründe, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Interne Fluchtalternative, Nordirak
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4 Bst. c); AsylVfG § 77 Abs. 2
Auszüge:

Die Klägerin hat Anspruch auf die Feststellung, dass bei ihr die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich des Iraks vorliegen.

Diese neue Rechtslage ist nach § 77 Abs. 2 AsylVfG auch bei Klagen gegen vor In-Kraft-Treten des Aufenthaltsgesetzes ergangenen Bundesamtsentscheidungen anzuwenden.

Die Klägerin ist ein Christ aus dem Irak. Bei Christen im Irak liegen aber die Voraussetzungen einer nichtstaatlichen Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG vor.

Aufgrund der ihm vorliegenden Erkenntnisquellen stellt sich für das Gericht die Situation im Irak für Christen wie folgt dar: ......

Unter Gewichtung und Abwägung all dieser Umstände ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung eine Verfolgung die Klägerin im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c) AufenthG durch nichtstaatliche Akteure bei einer Rückkehr in den Irak bereits deshalb anzunehmen ist, weil die Klägerin der christlichen Minderheit des Landes angehört. Die von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufgestellten Voraussetzungen für eine Gruppenverfolgung sind - abgesehen von einer staatlichen Verfolgung - zu bejahen.

Bei einer Gruppenverfolgung besteht ein Nachfluchtgrund. Es besteht dann die Regelvermutung, dass jeder Angehörige der Gruppe als deren Verfolgungsschicksal in seiner Person unmittelbar mitbetroffen anzusehen ist. Etwas anderes gilt nur dann, wenn Tatsachen, aus denen sich ergibt, dass der einzelne Angehörige von der Gruppenverfolgung ausgenommen ist, die Regelvermutung widerlegen (vgl. BVerfGE 83, 216 231 f. und Kammerbeschluss des BVerfG vom 2.2.1996 Az.: 2 BVR 1576/94).

Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung und der derzeitigen Lage im Irak haben die nach dem Regimewechsel im Irak bereits aufgetretenen Angriffe und Diskriminierungen der Christen im Irak die für eine Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte erreicht. So kommt es seit Mai 2003 nicht nur immer wieder zu Übergriffen auf Alkoholläden und auf deren zumeist christlichen Besitzer. Christen sind auch überdurchschnittlich oft Opfer von Entführungen und Erpressungen. Sie sind auch bevorzugtes Angriffsziel von Extremisten oft in Verbindung mit dem Vorwurf der Kollaboration mit den Besatzungstruppen. Bei der Religionsausübung in Kirchen müssen Christen mit Terroranschlägen rechnen. Schließlich sind in der letzten Vergangenheit bis zu 40.000 Christen aus dem Irak geflohen. Die Verfolgung knüpft zwar nicht nur am Merkmal des Christentums an, sondern Christen werden auch nur deshalb häufig Opfer von Erpressungen, weil sie der reicheren Gesellschaftsschicht des Iraks angehören oder Opfer von Anschlägen von islamischen Terroristen, weil man ihnen Kollaboration mit den Besatzungstruppen vorwirft und um einen Keil zwischen Muslime und Christen im Irak zu schlagen. Die Verfolgung knüpft also häufig nicht an ein bestimmtes Verhalten oder Anlass an. Dadurch wird für den Einzelnen die Gefahr umso größer und - hinsichtlich ihrer Aktualität - unkalkulierbarer, weil sie ausschließlich an kollektive, dem einzelnen unverfügbare Merkmale anknüpft. Erpressungen, Geiselnahmen und Anschläge auf Christen kamen in der letzten Zeit sehr häufig vor. Hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer, weil Anzeigen wegen der Ineffizienz der Polizei nicht gemacht werden. Allgemein leben Christen im Irak in einem Klima zunehmender gesellschaftlicher Verachtung, das Verfolgungshandlungen in den Augen der Verfolger rechtfertigt oder doch tatsächlich begünstigt. Insgesamt sind somit die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung der Christen im Irak gegeben. Auch wenn christliche Institutionen im Irak weiterhin einen Verbleib der Christen im Irak befürworten (so Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2.11.2004), sprechen doch die oben dargestellten Fakten, insbesondere die Zahl von 40.000 christlichen Flüchtlingen in letzter Zeit und die insgesamt instabile Sicherheits- und Rechtslage im Irak, dagegen, dass keine Gruppenverfolgung von Christen im Irak vorliegt.

Tatsachen, die die Regelvermutung widerlegen könnten, sind nicht vorhanden.

Der derzeitige irakische Staat einschließlich internationaler Organisationen sind auch erwiesenermaßen nicht in der Lage. Schutz vor der Verfolgung zu bieten.

Nach dem eingeführten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2. November 2004 ist von einer "Abwesenheit effektiver Staatsgewalt" auszugehen, so dass der Staat christliche Minderheiten nicht wirksam schützen kann. Nach dem Bericht des UNHCR vom Oktober 2004 erweisen sich die Behörden und Sicherheitskräfte im Irak in einem Klima zunehmender Gewalt gegenwärtig als unfähig, effektiven innerstaatlichen Schutz zu gewähren. Wegen der augenscheinlichen Ineffizienz der Polizei und der den Anschlägen gegen Christen innewohnenden religiösen Elementen werden den Behörden die meisten Vorfälle nicht angezeigt. Die Opfer bleiben lieber im Verborgenen und entscheiden sich schließlich zum Verlassen der Gegend, um weiteren Bedrohungen aus dem Wege zu gehen (so UNHCR - Länderinformation Irak vom August 2004).

Es besteht im Irak für Christen auch keine innerstaatliche Fluchtalternative.