ObLG Bayern

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Zitieren als:
ObLG Bayern, Urteil vom 11.01.2005 - 4St RR 176/04 - asyl.net: M6329
https://www.asyl.net/rsdb/M6329
Leitsatz:

Liegt ein dauerhaftes Abschiebungshindernis vor, bei dem das vorübergehende Verlassen des Geltungsbereichs der Aufenthaltsgestattung erlaubt ist (§ 58 Abs. 3 AsylVfG), setzt die Beendigung dieses Befreiungstatbestandes eine deutliche, für den Ausländer erkennbare Zäsur voraus; die Annahme, dass nunmehr lediglich ein vorübergehendes Abschiebungshindernis vorliegt, genügt dafür nicht; bezüglich des Irak liegt nach wie vor ein dauerhaftes Abschiebungshindernis vor, so dass das vorübergehende Verlassen des Geltungsbereichs der Aufenthaltsgestattung gem. § 58 Abs. 3 AsylVfG erlaubt ist.

 

Schlagwörter: D (A), Iraker, Strafverfahren, Aufenthaltsgestattung, Räumliche Beschränkung, Zuwiderhandlung gegen eine räumliche Beschränkung, Vorübergehendes Verlassen des Bereichs der Aufenthaltsgestattung, Irak, Abschiebungsstopp, Abschiebungshindernis
Normen: AsylVfG § 58 Abs. 4 S. 1
Auszüge:

Liegt ein dauerhaftes Abschiebungshindernis vor, bei dem das vorübergehende Verlassen des Geltungsbereichs der Aufenthaltsgestattung erlaubt ist (§ 58 Abs. 3 AsylVfG), setzt die Beendigung dieses Befreiungstatbestandes eine deutliche, für den Ausländer erkennbare Zäsur voraus; die Annahme, dass nunmehr lediglich ein vorübergehendes Abschiebungshindernis vorliegt, genügt dafür nicht; bezüglich des Irak liegt nach wie vor ein dauerhaftes Abschiebungshindernis vor, so dass das vorübergehende Verlassen des Geltungsbereichs der Aufenthaltsgestattung gem. § 58 Abs. 3 AsylVfG erlaubt ist.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Das Amtsgericht Schwabach sprach den Angeklagten, einen irakischen Staatsangehörigen, mit Urteil vom 30.4.2004 vom Vorwurf der wiederholten Zuwiderhandlung gegen eine räumliche Beschränkung nach dem Asylvertahrensgesetz frei, weil er nach § 58 Abs. 4 Satz 1 Asylverfahrensgesetz wegen eines dauernden Abschiebehindernisses berechtigt gewesen sei, den Geltungsbereich der Aufenthaltsgestattung am 15.2.2004 vorübergehend zu verlassen.

Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft und rügt die Verletzung materiellen Rechts. Die (Sprung-)Revision ist zulässig (§ 335 Abs. 1, §§ 312, 341 Abs. 1, 344, 5 StPO), jedoch nicht begründet.

Aufgrund der getroffenen Tatsachenfeststellungen ist das Amtsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass der Abschiebung des Angeklagten zur Tatzeit "auf Dauer" ein tatsächliches Hindernis entgegensteht, § 58 Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 2 Asylverfahrensgesetz.

Der Senat hat sich bereits in dem Urteil vom 22. 9.2004 (4St RR 93/2004) in einem gleich gelagerten Fall allerdings mit Tatzeit (18.2.2003) vor dem 2. Golfkrieg mit dem Rechtsbegriff "auf Dauer" im Sinne des § 58 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG auseinandergesetzt und dazu ausgeführt:

"Bei dem Tatbestandsmerkmal "auf Dauer" handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff. Der unbestimmte Rechtsbegriff bezeichnet im Verwaltungsrecht ein Merkmal innerhalb einer gesetzlichen Bestimmung, das aus sprachlicher Sicht für sich betrachtet keinen eindeutigen Inhalt zu haben scheint, das gewissermaßen "unscharf ist. Erst durch Auslegung gewinnt der unbestimmte Rechtsbegriff an Schärfe. Die Auslegung schließt dabei stets eine Bewertung aller Umstände des Einzelfalles ein, in dem der Begriff konkret angewandt werden soll.

In der gängigen Kommentarliteratur zum Ausländerrecht (vgl. Renner Ausländerrecht 7. Aufl. § 58 AsylVfG Rn. 6; Hailbronner Ausländerrecht 20. Erg.-Lfg. § 58 Rn.9; Marx Kommentar zum Asylverfahrensgesetz 3. Auf!. § 58 Rn. 25 ff.;) erfolgt keine Definition des Tatbestandsmerkmals "auf Dauer". Vielmehr findet sich der immer wiederkehrende Hinweis, dass das Vorliegen dieser Voraussetzung "schwierig" bzw. "problematisch" festzustellen sei. Als Beispiele für dauernde tatsächliche Abschiebehindernisse werden die Schließung der Grenzen oder des einzigen Flughafens eines Staates oder lang dauernde schwere Krankheit des Asylbewerbers genannt. Einigkeit scheint aber darüber zu bestehen, dass "auf Dauer" jedenfalls nicht "auf Lebenszeit des Ausländers" oder gar "bis in alle Ewigkeit" oder "für immer" zu bedeuten hat (OLG Celle StV 1995, 474).

Der Rechtsbegriff eines Abschiebehindemisses "auf Dauer" ist vielmehr im Gegensatz zu dem im Ausländerrecht bzw. der Rechtsprechung verwandten Begriff "vorübergehendes Abschiebehindernis" zu verstehen (vgl. VG Ansbach Urteil vom 16.12. 2003 - AN 4 K03.05072), das sich dadurch auszeichnet, dass sein Wegfall in nicht allzu ferner Zukunft absehbar ist. Ein "dauerndes" Abschiebehindernis liegt dann vor, wenn zum maßgeblichen Tatzeitpunkt ein tatsächliches Abschiebungshindernis besteht und auf noch nicht absehbare, voraussichtlich längere Zeit weiter fortbestehen wird. Bei der Beurteilung der Frage, ob von einem Fortbestehen dieses Hindernisses auf unabsehbare Zeit auszugehen ist, kann auch auf die in der Vergangenheit stattgefundene Entwicklung zurückgegriffen werden. Wenn - wie im vorliegenden Fall - bereits seit über 10 Jahren keine Abschiebungen mehr erfolgt sind, spricht vieles dafür, dass eine gewisse "Verfestigung" des Zustandes eingetreten ist, die auch in die Zukunft fortwirkt, es sei denn, dass bereits konkrete gegenteilige Entwicklungen stattgefunden haben."

Anknüpfend an diese Entscheidung sind Entwicklungen oder Tatsachen in dem oben genannten Sinn nur solche, die geeignet sind, dauerhaft, definitiv und für jedermann nach außen erkennbar das tatsächliche Abschiebungshindernis zu beseitigen.

Der Umstand, dass seit über zehn Jahren keine Abschiebungen in den Irak mehr erfolgen, bildet nämlich ein Indiz für das Bestehen eines dauerhaften Abschiebehindernisses. Diese Indizwirkung kann nur durch Tatsachen beseitigt werden, die den Schluss auf eine dauerhafte Änderung der für die Durchführung von Abschiebungen maßgeblichen Umstände zulassen (BayObLG aaO Leitsätze 2 und 3).

Zur Beseitigung dieser Indizwirkung ist abgesehen von einer tatsächlichen Wiederaufnahme von Abschiebungen zumindest erforderlich, dass Umstände eingetreten sind, die Abschiebungen zu einem konkret vorhersehbaren bzw. bestimmbaren Zeitpunkt in nächster Zeit als sicher realisierbar erscheinen lassen.

Wegen der vorzunehmenden ex-ante-Betrachtung muss sich dies bereits zum Tatzeitpunkt objektiv abgezeichnet haben. Auch der subjektive Tatbestand hinsichtlich eines Verstoßes gegen die räumliche Beschränkung nach dem AsylVfG wäre nur dann erfüllt, wenn der Täter das Ende des Abschiebungsstopps vorhersehen konnte und daher mit seiner Abschiebung rechnen musste. Gleiches gilt für die früheren räumlichen Verstöße.

Das Amtsgericht ist bei einer Tatzeit am 15.2.2004, also deutlich nach Beendigung des 2. Irakkrieges, zu Recht noch von einem dauerhaften Abschiebehindernis gemäß § 58 Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 2 AsylVfG ausgegangen. Dabei hat es zutreffend auf die Verhältnisse zur Tatzeit abgestellt und festgestellt, dass Abschiebungen in den Irak nicht erfolgen und nicht geklärt ist, ob und wann diese wieder aufgenommen werden.

Entgegen der Ansicht der Staatsanwaltschaft liegt weiterhin ein dauerhaftes Abschiebehindernis vor. Eine Beendigung dieses Zustandes durch eine konkrete gegenteilige Entwicklung" im obigen Sinne hat (noch) nicht stattgefunden. Die Verhältnisse zur Tatzeit und auch noch gegenwärtig sind eher von Instabilität geprägt. So waren bereits im Februar 2004 zahlreiche Selbstmordanschläge gegen die Besatzungstruppen und deren Einrichtungen, gegen die irakische Polizei und Zivilisten in vollem Gange. Die Aufständischen-Hochburg Falludscha war von Unruhen erschüttert. Die Welle der Gewalt setzte sich in den Folgemonaten ungehindert fort.

Nach dem Großangriff der US- Truppen gegen Aufständische in Falludscha im November 2004 kam der Irak auch im Dezember 2004 nicht zur Ruhe. ...

Angesichts dieser allgemein bekannten Fakten kann von stabilen Verhältnissen im Irak und von einer tatsächlichen Beendigung der Kriegshandlungen nicht die Rede sein.

Die Ansicht der Staatsanwaltschaft, mit "Abschluss des Krieges" sei die Möglichkeit von Abschiebungen in greifbare Nähe gerückt, Abschiebungen seien in nicht allzu ferner Zukunft möglich und bereits damit sei das dauernde Abschiebehindernis beseitigt, kann nicht geteilt werden, weil sich - ungeachtet der angespannten Sicherheitslage im Irak - nach wie vor ein konkreter, hinreichend bestimmbarer Abschiebezeitpunkt nicht abzeichnet, der endgültige Zeitpunkt des Wegfalls des dauernden Abschiebehinderrisses letztlich offen bliebe.

Ein dauerhaftes Abschiebehindernis, das für den Täter einen "Vertrauentatbestand" bildet, kann nicht durch das Zwischenstadium eines nur vorübergehenden Abschiebehindernisses", für welches § 58 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG nicht mehr gelten würde, beendet werden. Die Rechtssicherheit erfordert zwischen dem Dauerzustand der Nichtabschiebung und der Beendigung dieses Zustandes eine klare Zäsur. Die Zerstörung eines Vertrauenstatbestandes bzw. eines Rechtsscheins muss nach außen definitiv erfolgen und für den Täter erkennbar sein. Dieser Ansicht liegen folgende Überlegungen zu Grunde:

Ein dauerndes Abschiebehindernis im Sinne von § 58 Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 2 AsylVfG stellt einen gesetzlichen Befreiungstatbestand dar (vgl. Marx Kommentar zum AsylVfG 3. Aufl. § 85 Rn.17), nicht lediglich einen Rechtfertigungsgrund (vgl. Gemeinschaftskommentar zum AsylVfG § 85 Rn. 24). Mangels Vorliegen einer Zuwiderhandlung nach §§ 56, 85 Abs. 2 AsylVfG entfällt daher bereits die Tatbestandsmäßigkeit. Nach Hailbronner (Kommentar Ausländerrecht, § 85 AsylVfG Rn. 5/9) handelt es sich bei der Vorschrift des § 58 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG um einen Erlaubnistatbestand. Einem gesetzlichen Befreiungstatbestand bzw. einem Erlaubnistatbestand, der wie hier bereits sehr lange andauert, ist immanent, dass Asylbewerber zunächst unbefristet darauf vertrauen können, nicht abgeschoben zu werden. Die Zerstörung dieses Vertrauens bzw. des gesetzten Rechtsscheins erfordert daher aus Gründen der Rechtssicherheit- und

klarheit eine deutliche und endgültige Zäsur. Dazu ist die tatsächliche Wiederaufnahme von Abschiebungen zu fordern oder zumindest die Ankündigung, zu einem exakt in der Zukunft bestimmbaren Zeitpunkt die Abschiebungen wieder aufzunehmen, sofern diese, wie ausgeführt, auch realisierbar sind.

Da weder Abschiebungen aufgenommen noch ein konkreter Zeitpunkt in der Zukunft für die Wiederaufnahme von Abschiebungen bestimmt werden kann, lag zum Tatzeitpunkt (noch) ein tatsächliches Abschiebehindernis von ungewisser Dauer vor.