SG Hildesheim

Merkliste
Zitieren als:
SG Hildesheim, Beschluss vom 28.02.2005 - S 34 AY 2/05 ER - asyl.net: M6332
https://www.asyl.net/rsdb/M6332
Leitsatz:

Allein die Verweigerung der freiwilligen Ausreise stellt keine rechtsmissbräuchliche Verlängerung des Aufenthalts gem. § 2 Abs. 1 AsylbLG dar.

 

Schlagwörter: D (A), Serbien und Montenegro, Kosovo, Ashkali, Ägypter, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Vorwegnahme der Hauptsache, Asylbewerberleistungsgesetz, Rechtsmissbrauch, Freiwillige Ausreise, Aufnahmebedingungen, UNMIK, Märzunruhen
Normen: SGG § 86b Abs. 2 S. 2; AsylbLG § 2
Auszüge:

Allein die Verweigerung der freiwilligen Ausreise stellt keine rechtsmissbräuchliche Verlängerung des Aufenthalts gem. § 2 Abs. 1 AsylbLG dar.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Nach § 86 b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung).

Der Antragsteller ist ein Abwarten auf die Entscheidung in der Hauptsache nicht zuzumuten, da die derzeit bewilligten Leistungen nach §§ 1 und 3 ff. AsylbLG deutlich geringer sind als die Leistungen nach §2 AsylbLG in Verbindung mit dem SGB Xll. Soweit der Antragsgegner darauf hinweist, dass die Antragsteller aufgrund des Mittelbezuges nach §§1 und 3ff. AsylbLG nicht völlig mittellos seien und insoweit ein Abwarten auf die Entscheidung in der Hauptsache nicht unzumutbar sei, folgt das Gericht dieser Argumentation nicht. Nach Auffassung des Gerichts ist in diesem Zusammenhang insbesondere zu berücksichtigen, dass ausweislich der Gesetzesbegründung zum Asylbewerberleistungsgesetz für den Personenkreis des §1 Abs. 1 AsylbLG a. F. vorgesehene deutlich abgesenkte Leistungsumfang, der ein Leben ermögliche, dass durch Sicherung des Mindestunterhalts dem Grundsatz der Menschenwürde gerecht werde, nur für eine vorübergehende Zeit als zumutbar abgesehen werden kann (Gemeinschaftskommentar zum AsylbLG, Stand Dez. 2004, §2, Rdnr. 16 m. w. N.). Aus der Begründung zum Gesetzentwurf ergibt sich weiterhin, dass bei längerem (über 36 Monate andauernden) Aufenthalt in der Bundesrepublik nicht mehr auf einen geringeren Bedarf abgestellt werden kann, der bei einem kurzen vorübergehenden Aufenthalt besteht. Insoweit seien auch Bedürfnisse anzunehmen, die auf bessere soziale Integration ausgerichtet seien (Gemeinschaftskommentar zum AsylbLG, Stand Dez. 2004, §2, Rdnr. 16 m.w.N.). Das bedeutet, dass die Beschränkung auf die deutlich geringeren Leistungen nur insoweit verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, wie die Voraussetzungen für den Bezug von Leistungen nach §2 AsylbLG nicht vorliegen. Bei ausreichend langer Aufenthaltsdauer in Deutschland widerspricht es jedoch dem Integrationsgedanken des AsylbLG, den Antragstellern Leistungen vorzuenthalten, die ihnen glaubhaft zustehen. Daher ist die Verweisung auf die Entscheidung in der Hauptsache für die Antragsteller insoweit unzumutbar. Zudem ist zu berücksichtigen, dass bei Streitigkeiten über die Anwendung des Asylbewerberleistungsgesetzes mit einer zeitnahen Hauptsacheentscheidung typischerweise nicht gerechnet werden kann. In einem Verfahren auf Bewilligung von Leistungen nach §2 AsylbLG könnten die Antragsteller aufgrund der zwischenzeitlichen Gewährung von Sachleistungen selbst dann keinen Rechtsschutz erlangen, wenn der geltend gemachte Anspruch auf Geldleistungen nach §2 AsylbLG berechtigt ist. Dies würde im Ergebnis dann zu einer Situation führen, in der den Beteiligten ein wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz vorenthalten bleibt, was mit Artikel 19 Abs. 4 S. 1 GG unvereinbar sein dürfte (so auch VGH Baden-Württemberg, Az. 6 S 1264/95, zitiert nach Juris). Insoweit schließt sich das Gericht der bisherigen Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts und des VG Hannover an.

Die Antragsteller haben auch einen Anordnunganspruch glaubhaft gemacht. Nach §2 Absatz 1 AsylbewLG ist abweichend von den §§3 bis 7 (des Asylbwerberleistunstungsgesetzes) das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch auf Leistungsberechtigte entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 36 Monaten Leistungen nach 33 erhalten haben und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Da die Antragsteller seit August 1998 Leistungen nach §§1 und 3 AsylbewLG beziehen und insoweit unstreitig die zeitlichen Voraussetzungen nach §2 AsylbewLG erfüllen, ist zwischen den Beteiligten alleine streitig, ob sie die Dauer ihres Aufenthalts in Deutschland rechtmissbräuchlich im Sinne von §2 AsylbLG beeinflussen.

Fraglich erscheint bereits, ob es den Antragstellers angesichts der Unruhen im März 2004 mit einer Eskalation ethnisch motivierter Gewalt im gesamten Kosovo zumutbar ist, freiwillig in den Kosovo zurückzukehren (vgl. z.B. VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 12.01.2005, 7S 1769/02). Dementsprechend enthält auch der Erlass des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport vom 25.06.2004 den Hinweis, dass die Abschiebung von Serbien und Roma in das Kosovo nach wie vor aus tatsächlichen Gründen nicht möglich ist und dass UNMIK bis auf weiteres auf der Rückführung von Ashkali und Ägyptern in das Kosovo nicht zustimmt. Auch der Erlass vom 23.09.2004. stellt fest, dass UNMIK sich trotz einer fortgeschrittenen Stabilisierung der Sicherheitslage im Kosovo derzeit noch nicht in der Lage sehe, einer Wiederaufnahme der Rückführung von Minderheiten und Angehörigen der Ashkali und Ägypter zuzustimmen. Nach diesem Erlass ist bei der Deutschen Seite der Eindruck entstanden, dass UNMIK eine Wiederaufnahme der Rückführung wegen der am 23.10.2004 im Kosovo stattfindenden Parlamentswahlen und durch sich anschließende Wintermonate möglicherweise nicht vor Frühjahr 2005 zulassen wird. Trotz des Hinweises in dem Erlass vom 25.06.2004 sowie vom 23.09.2004, dass freiwillige Ausreisen in das Kosovo für alle ethnischen Gruppen möglich seien, sprechen die in dem Erlass angeführten Probleme gerade nicht dafür, anzunehmen, dass eine Rückkehr tatsächlich zumutbar ist. Da es nach §2 AsylbLG jedoch ausdrücklich nicht um die Zumutbarkeit der Rückkehr in das Heimatland geht, sondern der Anspruchsausschluss an die Rechtmissbräuchlichkeit des Aufenthaltes in Deutschland anknüpft, kann die Frage der Zumutbarkeit der Rückkehr letztendlich dahingestellt bleiben.

Entscheidend ist vielmehr, dass die bloße Möglichkeit der freiwilligen Rückkehr ohne darüber hinausgehende Bemühungen des Antragsgegners zur Rückführung der Antragsteller nicht als rechtmissbräuchlich bezeichnet werden kann. Die exemplarische Aufzählung von Missbrauchstatbeständen in der Gesetzesbegründung legt nahe, dass nur solche Verhaltensweisen erfasst werden sollen, in denen Antragsteller aktiv Maßnahmen ergreifen, die ihre Rückführung verhindern bzw. verhindern sollen (Vernichtung des Passes) oder ausdrücklichen Mitwirkungspflichten (Angabe der richtigen Identität) zuwiderhandeln. Dass nach der Gesetzesbegründung zwischen Ausländern differenziert werden soll, die unverschuldet nicht ausreisen können und denjenigen, die rechtsmissbräuchlich ihrer Ausrepflicht nicht nachkommen, führt zu keiner anderen Bewertung der Nichtausreise bei bloßer Möglichkeit zur freiwilligen Rückkehr. Das vorgenannte Gegensatzpaar wird insoweit der Tatsache nicht gerecht, dass es Fallkonstellationen -–wie die freiwillige Ausreise -–gibt, die der Staat toleriert, indem er keine Maßnahmen zur Abschiebung oder Rückführung unternimmt. Auch wenn in diesen Fällen gesagt werden kann, dass den Antragstellern die Ausreise unverschuldet nicht möglich ist, reicht das Verhalten der Antragsteller nicht aus, um ihnen ein rechmissbräuchliches Verhalten vorzuwerfen. Schließlich nutzen die Antragsteller in dieser Konstellation lediglich eine für sie günstige vom Antragsgegner zugelassene Situation (derzeitiges Absehen von Abschiebungsmaßnahmen) aus, welche der Antragsgegner selbst beenden könnte, wenn er wollte. Nach Ansicht des Gerichts setzt der Begriff des Rechtsmissbrauchs mehr voraus als bloßes Nichtstun. Auch wenn die Antragsteller lediglich geduldet sind und insofern einer grundsätzlichen Ausreisepflicht unterliegen, stellt das bloße Nichtausreisen keinen Rechtsmissbrauch dar. Der Begriff des Rechtsmissbrauchs setzt voraus, dass die Rechtsübung objektiv gegen Treu und Glauben verstößt (Deutsche Rechtslexikon, 2. Aufl., 1992) bzw. dass die Ausübung eines Rechts zwar formell dem Gesetz entspricht, die Geltendmachung jedoch wegen der besonderen Umstände des Einzelfalls treuwidrig ist (Greifeld, Rechtswörterbuch, 10. Aufl.). Dem entsprechen auch die Beispiele für Rechtmissbrauch, die in der Gesetzesbegründung genannt sind, sowie die Beispiele in Artikel 16 des Entwurfs zur Richtlinie. Der Antragsgegner hätte es in der Hand, Abschiebemaßnahmen einzuleiten und so die Dauer des Aufenthalts der Antragsteller zu beenden. Wenn er dies aus den in den beiden Erlassen aus dem Juni und September 2004 genannten Gründen nicht tut, kann dies nicht zu Lasten der Antragsteller gehen und dazu führen, dass ihnen Rechtsmissbrauch vorgeworfen werden kann.