VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 23.03.2005 - 3 UE 3457/04.A - asyl.net: M6358
https://www.asyl.net/rsdb/M6358
Leitsatz:
Schlagwörter: Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Sierra Leone, Genitalverstümmelung, Flüchtlingsfrauen, Geschlechtsspezifische Verfolgung, Nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgungsbegriff, Latente Gefährdungslage, Vorverfolgung, Anerkennungsrichtlinie
Normen: VwGO § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1d
Auszüge:

Gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG darf ein Ausländer in Anwendung des Abkommens vom 26. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch dann vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft. Eine Verfolgung im Sinne des Satzes 1 kann ausgehen von

a) dem Staat,

b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder

c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern sie unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht Willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative.

Durch die Anknüpfung der Verfolgung allein an das Geschlecht geht § 60 Abs. 1 AufenthG über den Wortlaut von § 51 Abs. 1 AuslG hinaus und legt den bis dato herrschenden Streit bei, ob die Anknüpfung von Verfolgungshandlungen allein an das Geschlecht das Kriterium der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe erfüllt und damit abschiebungsverbotsrelevant sein kann. Eines Rückgriffs auf die Gesetzesmotive zu § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG insbesondere zu der hier relevanten Anknüpfung der Verfolgung allein an das Geschlecht bedurfte es auf Grund des eindeutigen Wortlauts der Norm dabei nicht; wobei diese zu § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG darüber hinaus auch keine Aussagen enthalten, da Satz 3 erst zu einem späteren Zeitpunkt in das Gesetz aufgenommen worden ist. Auch die Entstehungsgeschichte des § 60 Abs.1 Satz 3 AufenthG belegt jedoch, dass durch Satz 3 gerade auch Sachverhaltskonstellationen wie drohende Genitalverstümmelung erfasst werden sollten. Ausweislich einer Stellungnahme des Deutschen Juristinnenbundes zum Entwurf eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthaltes und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen (Bundestagsdrucksache 14/387 vom 8. November 2001) begrüßt dieser, dass die Bundesregierung in den Gesetzentwurf - im Gegensatz zum früher vorgelegten Referentenentwurf - eine gesetzliche Klarstellung in § 60 Abs. 1 und in § 25 Abs. 2 AufenthG-E aufgenommen hat, mit der geschlechtsspezifische Verfolgung angemessen berücksichtigt wird. Nach der Stellungnahme bedurfte es hinsichtlich der Situation von Frauen der Klarstellung, dass geschlechtsspezifische Verfolgung eine Form von politischer Verfolgung in Anknüpfung an das unverfügbare Merkmal "Geschlechts" darstellt. Von geschlechtsspezifischer Verfolgung sind danach insbesondere betroffen

- Frauen, die geschlechtsbezogener Diskriminierung entweder von Seiten staatlicher Stellen oder von Seiten Privater ausgesetzt sind, wenn der Staat sie nicht ausreichend schützen kann oder will. Die Formen geschlechtsbezogener Diskriminierung reichen von Entrechtung von Frauen über sexuelle Gewalt bis hin zur ritueller Tötung;

- Frauen, die Verfolgung befürchten, weil sie kulturelle oder religiöse Normen übertreten haben oder sich diesen nicht beugen wollen. Dazu gehören Vorschriften über Kleidung oder Auftreten in der Öffentlichkeit und auch die Genitalverstümmelung;

- Frauen, die Verfolgung aufgrund der Aktivitäten oder der Ansichten von Familienangehörigen befürchten;

- Frauen, die aus denselben Gründen Verfolgung fürchten wie Männer, wobei die Art der Verfolgung geschlechtsbezogen sein kann (vgl. Deutscher Juristinnenbund, www.djb.de, dort unter Stellungnahmen).

Aufgrund des Wortlauts von § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG kann die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über der Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Amtsblatt Nr. L 304 vom 30109/2004 S. 12 bis 23) - Qualifikationsrichtlinie - nicht zu einer restriktiven Auslegung des § 60 Abs. 1 AufenthG herangezogen werden, was jedoch teilweise vertreten wird. Art. 10 Abs. 1 d) der Qualifikationsrichtlinie bestimmt, unter welchen Voraussetzungen eine Gruppe als eine bestimmte soziale Gruppe anzusehen ist, wobei geschlechtsbezogene Aspekte berücksichtigt werden können, für sich allein genommen jedoch noch nicht Annahme rechtfertigen, dass dieser Artikel anwendbar ist. Die Qualifikationsrichtlinie legt jedoch lediglich Mindeststandards fest, wobei der Wortlaut der Richtlinie nichts darüber besagen kann, ob der nationale Gesetzgeber den Mindeststandard erweitern wollte. Dass dies von Bundesgesetzgeber durch die Regelung des § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG gewollt war, wird bestätigt durch die Aussage des Mitglieds des Vermittlungsausschusses Volker Beck, MDB vom 25. Oktober 2004, wonach der Wortlaut von § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG über den Wortlaut der "EU-Qualifikationsrichtlinie" hinausgeht, was im Vermittlungsausschuss beabsichtigt gewesen sei, denn die "EU-Qualifikationsrichtlinie" schreibe lediglich Mindeststandards vor. Entgegenstehende Äußerungen seien falsch (vgl. ANA-ZAR, Anwaltsnachrichten Ausländer- und Asylrecht, Beilage zur ZAR Heft 1, 2005, dort S. 2)

Es kann zunächst dahinstehen, ob zumindest die im Zeitpunkt der Ausreise 10 Jahre alte Berufungsklägerin zu 1. als vorverfolgt ausgereist anzusehen ist, da ihr in diesem Alter, zumal im Jahr 1998 unmittelbar Genitalverstümmelung drohte, wie weiter unter ausgeführt werden wird, da beiden Berufungsklägerinnen bei Rückkehr nach Sierra Leone mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Genitalverstümmelung und damit Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG droht.

Nach Auswertung der Auskünfte sowie des Vortrags der Eltern der Berufungsklägerinnen steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass diesen entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts bei einer Rückkehr in ihr Heimatland Sierra Leone mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Genitalverstümmelung und damit Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG droht.

Allein die Genitalverstümmelungsrate von 80 bis 90 % rechtfertigt nach Auffassung der Richterin die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit, da bei qualifizierender Betrachtungsweise die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.12.1993, a.a.O.) Hinzu kommt im vorliegenden konkreten Einzelfall zwar auf der einen Seite, dass die Familie der Berufungsklägerinnen der gebildeten Schicht angehören, sich zum Christentum bekennen und selbst gegen Genitalverstümmelung eingestellt sind. Auf der anderen Seite konnte die Familie jedoch bereits einmal im Fall der älteren Tochter die Beschneidung durch Dritte nicht verhindern, vielmehr wurde diese durch Verwandte gegen den Willen der Eitern durchgeführt. Den eingeholten Auskünften ist auch durchaus nicht zu entnehmen, dass allein der Bildungstand oder die Rückkehr nach Freetown ausreichenden Schutz vor entsprechenden Verfolgungsmaßnahmen bieten. Insoweit weist das Institut für Afrikakunde zutreffend darauf hin, dass in dem Großraum Freetown nahezu ein Drittel der Gesamtbevölkerung Sierra Leones lebt, so dass sich hieraus bereits rein rechnerisch ergibt, dass auch die Hauptstadt von FGM nicht frei sein könne. Weiter führt das Institut aus, dass Bildung/Ausbildung und FGM Abneigung der Eltern einen Einfluss auf die Anwendungswahrscheinlichkeit von FGM haben dürfte, wobei sich diese Aussage allerdings relativiere, wenn die Familie gezwungen sei, unter den Bedingungen der Tradition und der traditionellen Kultur zu leben (Institut für Afrikakunde an VG Frankfurt am Main, a.a.O.).

Soweit man der Auffassung nicht folgen sollte, dass der Berufungsklägerin zu 1. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Genitalverstümmelung bei Rückkehr nach Sierra Leone droht und insoweit auf das Alter der Berufungsklägerin zu 1. abstellt, kommt es entscheidend darauf an, ob diese vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Die Zeitpunkt der Ausreise 10 Jahre alte Berufungsklägerin zu 1. ist jedoch vorverfolgt ausgereist, wobei es hierbei nicht darauf ankommen kann, ob die Beschneidung an ihr bereits vollzogen wurde oder nicht. Im Jahr 1998 wurde die Beschneidung staatlicherseits sogar propagiert und gefördert, wie sich aus der Auskunft des Instituts für Afrikakunde an das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main ergibt. Die Berufungsklägerin zu 1. war daher unmittelbar gefährdet, zumal ihre ältere Schwester bereits gegen den Willen der Eitern beschnitten worden war. Die danach vorverfolgte Berufungsklägerin zu 1. ist doch bei Rückkehr in ihr Heimatland nicht hinreichend sicher vor entsprechenden Übergriffen, was sich aus der Auskunftslage sowie der besonders labilen Familiensituation ergibt.

Bei der Genitalverstümmelung handelt es sich zwar nicht um staatliche Verfolgung, gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 c) AufenthG sind Verfolgungsmaßnahmen jedoch auch von nicht staatlichen Akteuren relevant, soweit der Staat oder Parteien oder Organisationen die den Staat oder wesentliche Tolle des Staatsgebiets beherrschen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht Willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten. Diese Voraussetzungen sind nach der Auskunftslage für Sierra Leone ohne weiteres zu bejahen, da in Sierra Leone keinerlei Gesetze Genitalverstümmelung verbieten, und Genitalverstümmelung weiter von der Regierung geduldet wird (vgl. AA an OVG Bremen vom 05.10.2004) und in den Jahren 1997/98 sogar staatlicherseits unterstützt wurde (vgl. Institut für Afrikakunde an VG Frankfurt am Main, a.a.O.).

Die Verfolgung knüpft allein an das Geschlecht im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG an, da von der Genitalverstümmelung ausschließlich Frauen und Mädchen betroffen sind. Sie führt auch zu einer Bedrohung des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit sowie der Freiheit der betroffenen Personen, da Genitalverstümmelungen immer mit schwerwiegenden körperlichen Beeinträchtigungen verbunden sind und in einem gewissen Umfang sogar tödlich enden.