VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.09.2004 - A 13 S 949/01 - asyl.net: M6381
https://www.asyl.net/rsdb/M6381
Leitsatz:

Abschiebungshindernis nach AuslG § 53 Abs 1 und 4 wegen bei Wiedereinreise erneut drohender Festnahme und Folter infolge des fortbestehenden Schmuggelvorwurfs. (Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Syrien, Aramäer, Christen (syrisch-orthodoxe), Hausdurchsuchung, Falsche Verdächtigung, Riad Al Turk, Verdacht der Unterstützung, Festnahme, Misshandlungen, Folter, Glaubwürdigkeit, Strafverfahren, Politmalus, Psychische Erkrankung, Posttraumatische Belastungsstörung, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Strafverfolgung, Foltergefahr, Menschenrechtswidrige Behandlung
Normen: GG Art. 16a; AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 4; EMRK Art. 3
Auszüge:

Das von den Klägern angefochtene Urteil der Verwaltungsgerichts Freiburg hat zu Recht für alle Kläger auch das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 51 Abs. 1 AuslG verneint.

Was den Kläger zu 1 angeht, so nimmt ihm der Senat allerdings durchaus ab, dass er in Syrien zwei Mal - davon ein Mal kurzzeitig - verhaftet worden ist; ebenso geht der Senat davon aus, dass der Kläger zu 1 die von ihm geschilderte Zeit im Gefängnis verbracht hat und dass er anlässlich der zweiten Inhaftierung erheblich misshandelt wurde. Allerdings hat sich der Senat nicht davon überzeugen können, dass diese Inhaftierungen und ebenso die Misshandlungen des Klägers zu 1 auf dem Verdacht einer politischen Gegnerschaft beruhten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.1.1992 - 2 BvR 472/91:-, InfAuslR 1992, 223 und 2.12.1993 - 2 BvR 1475/93 -, InfAuslR 1994, 109 sowie vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 -, AuAS 1997, 6); es spricht wesentlich mehr dafür, dass der Kläger zu 1 - wie er auch ursprünglich vorgetragen hat - nicht in Anknüpfung an asylrechtlich relevante Merkmale, sondern wegen des Verdachts einer kriminellen Handlung in den Blickwinkel des syrischen Staates und der Sicherheitskräfte geraten ist. Der Vortrag des Klägers zu 1, Hintergrund oder vielleicht sogar einziger Anlass der Verhaftungen und Misshandlungen sei gewesen, dass man bei ihm eine Gegnerschaft zu dem syrischen Regime und speziell politische Nähe zur kommunistischen Partei Syriens - Riad AI Turk - vermutet habe, erscheint dem Senat auch unter Berücksichtigung einer bei dem KIäger zu 1 wohl vorliegenden posttraumatischen Belastungsstörung nicht als glaubhaft. Dies ergibt sich aus folgenden Überlegungen:

Das Verwaltungsgericht hat bereits in seiner Entscheidung vom 7.6.2001 hinsichtlich des Klägers zu 1 zahlreiche Punkte aufgelistet, in denen Ungereimtheiten oder Widersprüche im klägerischen Vortrag - und zwar durchaus nicht nur in Randbereichen im Sinn der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (s. Urteil vom 25.6.1991 - 9 C 131/90 -, InfAuslR 1991, 310) - festzu- stellen sind. Einer der zentralen Punkte betrifft dabei die Frage, aus welchen Gründen der Kläger zu 1 verhaftet worden ist; auch dem Verwaltungsgericht ist aufgefallen, dass der Kläger zu 1 beim Bundesamt angegeben hat, man habe gegen ihn den Vorwurf des Schmuggels erhoben, während in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht das Schwergewicht auf den Verdacht gelegt wurde, er stehe mit der kommunistischen Partei Syriens unmittelbar oder mittelbar in Verbindung oder habe sogar Broschüren für diese Partei in Fernsehapparaten befördert. Bei Würdigung des gesamten Vortrags des Klägers zu 1 lässt sich ohne weiteres feststellen, dass im Lauf des Verfahrens das Schwergewicht immer mehr auf den Vorwurf des Transports von Unterlagen für die kommunistische Partei gelegt worden ist.

Gegen die Annahme, dass der Kläger zu 1 wegen (vermuteter) politischer Nähe zu der kommunistischen Partei Syriens verhaftet, inhaftiert und geschlagen worden ist, spricht auch und insbesondere die von den Klägern eingeräumte Tatsache, dass der Familie des Klägers zu 1, insbesondere seiner Schwester und seinem Onkel, trotz deren - im Fall des Onkels sogar herausgehobener - Mitgliedschaft in dieser Partei nichts zugestoßen ist; bei einem Verdacht des syrischen Geheimdienstes gegen die Familie des Klägers zu 1 hätte es mehr als nahegelegen, unmittelbar auf die verdächtigten Personen - eben die Schwester des Klägers zu 1 und seinen Onkel zurückzugreifen.

Ebenso wenig ändert an der Einschätzung des Senats zur Glaubwürdigkeit des Klägers zu 1 (in dem hier interessierenden Punkt) des Gutachten der Sachverständigen Dr. R. zu der bei dem Kläger zu 1 auch nach Auffassung des Senats wohl vorliegenden posttraumatischen Belastungsstörung. Es erklärt zwar, dass der Kläger zu 1 von den körperlichen Misshandlungen nicht bereits beim Bundesamt, sondern erst in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht gesprochen hat, nicht aber die Tatsache, dass eine mit dem traumatisierenden Ereignis nur sehr entfernt zusammenhängende Frage - der Anlass der Verhaftung - widersprüchlich geschildert worden ist. Es ist auch eine auffallende Diskrepanz, wenn der Kläger zu 1 die ihm beim Bundesamt gestellte Frage nach seinen politischen Aktivitäten rundweg verneint hat, während er andererseits zwei Jahre später gegenüber dem Sachverständigen erklärte, mindestens zwei Mal für seinen Onkel politische Schriften in Fernsehapparaten von Aleppo nach Karnishli transportiert zu haben. Die Annahme, dass es in der Tat um den strafrechtlichen Vorwurf des Schmuggels ging, wird schließlich auch durch die Aussagen der Klägerin zu 2 bestätigt. Sie hat dies nicht nur beim Bundesamt als Verhaftungsgrund angegeben - allerdings neben der Frage des Geheimdienstes an den Kläger zu 1, ob er "mit ihnen" zusammenarbeiten wolle -, sondern auch noch beim Verwaltungsgericht erst in zweiter Linie hat sie erklärt, "eigentlich" habe man nach Broschüren gesucht.

Damit ist nach Auffassung des Senats davon auszugehen, dass der Kläger zu 1 aufgrund strafrechtlichen Vorwurfs den von ihm geschilderten Verfolgungen (Verhaftungen, Haft, Misshandlungen) ausgesetzt war. Es ergeben sich auch keinerlei Anhaltspunkte für einen sog. Politmalus d.h. eine Verschärfung der Verfolgungsmaßnahmen wegen asylrechtlich relevanter Merkmale (siehe dazu BVerfG, Beschluss vom 15.2.2000 - 2 BvR 752/97 -, InfAuslR 2000, 254, 259); sie sind weder aus dem Vortrag der Kläger abzuleiten noch aus besonderer, aus dem Rahmen fallender Härte der Misshandlungen, da in Syrien Misshandlungen in der Haft sehr häufig, geradezu an der Tagesordnung sind.

Was den Kläger zu 1 angeht, so war die Beklagte unter entsprechender Abänderung des erstinstanzlichen Urteils zu verpflichten festzustellen, dass in seiner Person - bezogen auf Syrien - Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 1 und Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegen; hieraus folgt, dass insofern d.h. auf das Zielland Syrien bezogen, auch die gegen den Kläger zu 1 ergangene Abschiebungsandrohung aufzuheben war (siehe BVerwG, Urteil vom 26.6.2002 - 1 C 17.01 -, BVerwGE 116, 326). Der Erfolg des Klägers zu 1 hinsichtlich Abschiebungshindernisse ergibt sich daraus, dass dem Kläger zu 1 mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr nach Syrien Folter bzw. unmenschliche Behandlung drohen.

Wenn es auch für die Frage des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs nicht auf eine bereits vor der Ausreise erlittene Folter bzw. unmenschliche Behandlung ankommt, hängt die Frage, ob der Kläger zu 1 bei einer Rückkehr nach Syrien derartigen Maßnahmen ausgesetzt ist, doch mittelbar auch davon ab, ob er ihnen bereits ausgesetzt war; dies gilt jedenfalls dann, wenn Folterung und/oder unmenschliche Behandlung wie im vorliegenden Fall im Zusammenhang mit einem noch immer anhängigen Strafverfahren oder dem Verdacht einer strafbaren Handlung (Schmuggel) stehen. Kann man dem Kläger zu 1 - mit anderen Worten - abnehmen, dass er wegen Schmuggels verhaftet, ins Gefängnis gesteckt und darüber hinaus misshandelt worden ist, so ist die Annahme, dass ihm bei einer Rückkehr nach Syrien das gleiche widerfährt, jedenfalls dann mit ausreichender Wahrscheinlichkeit zu treffen, wenn der Verdacht nach wie vor besteht oder das den Misshandlungen zugrunde liegende Strafverfahren nach wie vor anhängig ist. Auch dann muss der Kläger zu 1 nämlich mit erneuter Verhaftung und in diesem Zusammenhang mit einer Wiederholung der Misshandlungen rechnen.

Im Fall der Klägers zu 1 sind diese Voraussetzungen gegeben; der Senat nimmt ihm ab, dass er bereits vor seiner Ausreise im Zusammenhang mit dem Schmuggelvorwurf in Kamishii, vor allem aber in Aleppo misshandelt worden ist, und es ist auch davon auszugehen, dass dieser Vorwurf auch bei einer Ruckkehr nach Syrien noch Wirkung zeigt. In diesem Fall muss der Kläger zu 1 aber - wie sich aus den dem Senat vorliegenden Erkenntnismitteln ergibt -, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit erneuten Misshandlungen rechnen.

Zunächst geht der Senat - anders als das Verwaltungsgericht - davon aus, dass die Schilderungen des Klägers zu 1 zu den Misshandlungen insbesondere, in Aleppo glaubhaft sind. Zwar ist dem Verwaltungsgericht zuzugeben, dass der Kläger zu 1 diese Misshandlungen beim Bundesamt noch nicht erwähnt hat, so dass insofern die Annahme einer zur Unglaubwürdigkeit des Vortrags führenden "Steigerung" nicht fern liegt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10.5.2002 - 1 B 392.01 -, OVBI. 2002, 1213 und Urteil vom 20.10.1987 - 9 C 147/86 -, InfAuslR 1988, 55); andererseits lässt sich aber eine Erklärung hierfür in der besonderen Belastungssituation des Klägers zu 1 finden, die ihm die Sachverständige in dem vom Senat eingeholten Gutachten attestiert hat. Nach diesem in sich stimmigen und in der mündlichen Verhandlung darüber hinaus auf konkrete Nachfragen aller Beteiligten erläuterten Gutachten geht der Senat ebenso wie die Gutachterin davon aus, dass bei dem Kläger zu 1 infolge seiner traumatischen Erlebnisse durch die Misshandlungen zum Zeitpunkt der Anhörung beim Bundesamt eine schwere Störung vorlag, die wegen der damit verbundenen "Trigger-Funktion" Vermeidungsreaktionen auslösen konnte. Von daher ist nachvollziehbar, dass der Kläger zu 1 beim Bundesamt die ihn besonders belastenden Vorgänge in Aleppo noch nicht geschildert hat.

Da - wie die Auskunft des Auswärtigen Amts ergibt - die von dem Kläger zu 1 vorgelegten Unterlagen über das Strafverfahren echt sind bzw. keine Fälschungsmerkmale aufweisen, ist davon auszugehen, dass mit der Entlassung es Klägers zu 1 im Mai 1996 aufgrund Kaution (200.000 Lire) das Strafverfahren nicht beendet war; dies erklärt die Tatsache, dass der Kläger zu 1 noch drei Monate später gerichtlich geladen wurde. Hieraus folgt, dass er bei einer Rückkehr nach Syrien und der dann zu erwartenden Befragung (siehe Auswärtiges Amt, Auskunft vom 4.8.2004 an VG Stade) mit dem noch anhängigen Vorwurf erneut konfrontiert werden würde; bei einer gerade wegen seiner vorangegangenen Flucht zu erwartenden erneuten Inhaftierung wären mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erneute Folterung und Misshandlung zu befürchten.