VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.09.2004 - A 2 S 51/01 - asyl.net: M6382
https://www.asyl.net/rsdb/M6382
Leitsatz:

Die irakische Übergangsregierung übt staatliche Macht im asylrechtlichen Sinne aus; Ausschluss der verfassungskonformen Anwendung des § 53 Abs. 6 AuslG durch gleichwertigen Abschiebungsschutz nach baden-württembergischer Erlasslage; keine landesweit bestehende extreme Gefährdungslage durch Anschläge oder Versorgungslage.

 

Schlagwörter: Irak, Kurden, Zentralirak, PUK, Mitglieder, Polizisten, Haft, Vorverfolgung, Gebietsgewalt, Machtwechsel, Übergangsregierung, Herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Sicherheitslage, Versorgungslage, Allgemeine Gefahr, Extreme Gefahrenlage, Erlasslage, Abschiebungsstopp
Normen: GG Art. 16a; AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 6
Auszüge:

Die irakische Übergangsregierung übt staatliche Macht im asylrechtlichen Sinne aus; Ausschluss der verfassungskonformen Anwendung des § 53 Abs. 6 AuslG durch gleichwertigen Abschiebungsschutz nach baden-württembergischer Erlasslage; keine landesweit bestehende extreme Gefährdungslage durch Anschläge oder Versorgungslage.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Dem nach allem unverfolgt ausgereisten Kläger steht auch ein nach § 51 Abs. 1 AuslG zu berücksichtigender Nachfluchtgrund nicht zu.

Zwar kann mittlerweile nicht mehr davon die Rede sein, es fehle an einer irakischen Staatsmacht, die politische Verfolgung zurechenbar veranlassen könnte (so noch der Senat im Beschluss vom 26.4.2004 A 2 S 172/02 -). Im jetzigen Zeitpunkt (vgl. dazu auch § 77 AsylVfG) und damit für das anhängige Asylverfahren ist von dem Vorhandensein einer staatlichen Macht im Irak auszugehen.

Die staatliche Macht, wie sie sich derzeit darstellt, ist nach Beendigung des Saddam-Regimes und einem zwischenzeitlichen "Machtvakuum" neu entstanden.

Die staatliche Souveränität ist auch nach außen gestärkt durch den einstimmigen Beschluss des UN- Sicherheitsrats vom 8.6.2004, der die Machtübergabe an eine souveräne Übergangsregierung im Irak zum 30.6.2004 hervorhebt und die Erklärung enthält, dass die neue Regierung des Iraks jederzeit die internationalen Truppen zum Abzug auffordern darf.

Nachdem auch formal als Folge der o.a. UN-Resolution eine Besetzung des Iraks seit dem 1.7.2004 nicht mehr gegeben ist, ist bei einer Gesamtwürdigung der aufgezeigten derzeitigen Verhältnisse im Irak insgesamt die Herausbildung einer irakischen Staatsgewalt als Grundvoraussetzung für eine ihr zurechenbare politische Verfolgung gegeben.

Dass sich mit Blick auf die aufgezeigte Entwicklung eine Wahrscheinlichkeit für eine politische Verfolgung des Klägers durch die irakische Staatsgewalt ergeben könnte, ist nicht erkennbar.

Wenn man zugunsten des Klägers davon ausgeht, dass er den Irak als Vorverfolgter verlassen hat, wäre ihm Asyl bzw. Abschiebungsschutz grundsätzlich nur dann zu versagen, wenn eine Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen wäre (sog. herabgestufter Prognosemaßstab, vgl. BVerwG, Urt. vom 5.7.1994, NVwZ 1994, 500). Eine solche Wiederholung steht aber nicht in Rede. Sie und der damit anzuwendende Prognosemaßstab setzen eine Verknüpfung zwischen erlittener und künftig drohender Verfolgung für die Frage der Schutzgewährung voraus (vgl. OVG NW, Urt. vom 14.8.2003 - 20A 430/02. A -). Eine situationsbedingte Vorverfolgung führt nur bei der Gefahr der Wiederholung einer gleichartigen Verfolgung zur Anwendung des herabgestuften Maßstabs. Der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist nur dann anzuwenden, wenn bei einer am Gedanken der Zumutbarkeit der Rückkehr ausgerichteten wertenden Betrachtung ein innerer Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und der mit dem Asylbegehren geltend gemachten Gefahr erneuter Verfolgung dergestalt besteht, dass bei Rückkehr des Asylsuchenden mit einem Wiederaufleben der bereits einmal erlittenen Verfolgung zu rechnen ist oder nach den gesamten Umständen das Risiko der Wiederholung einer gleichartigen Verfolgung besteht. Ist die (vermutete) politische Überzeugung oder Gesinnung des Asylsuchenden Anknüpfungspunkt der Verfolgung, ist zu prüfen, ob eine darauf beruhende Vorverfolgung auch unter veränderten politischen Verhältnissen - wie etwa bei einem Regimewechsel - ein Wiederholungsrisiko indiziert (BVerwG, Urt. vom 18.2.1997, VerwGE 104, 97).

Davon kann hier nicht ausgegangen werden. Vor einer Verfolgungswiederholung aus Gründen, die den Anlass zu der behaupteten Vorverfolgung gegeben haben sollen, ist der Kläger hinreichend sicher. Es sind keine Anhaltspunkte dafür gegeben, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr in den Irak in Anknüpfung an das von ihm behauptete gegen das Regime Saddam Husseins gerichtete oder von diesem so gewertete Verhalten von der neu gebildeten Staatsgewalt Übergriffe zu besorgen hätte. Vielmehr ist es mehr als überwiegend wahrscheinlich, dass dem Kläger in Anknüpfung an das bisher Vorgetragene durch die jetzige Staatsgewalt keine asylrelevanten Nachteile drohen, eine Wiederholungsgefahr mithin mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist (vgl. dazu auch BVerwG, Urteil vom 11.2.2004 - 1 C 23.02 -; Urteil vom 24.2.2004 - 1 C 24.02 -). Gleiches gilt für die Bewertung des ungenehmigten Auslandsaufenthaltes und der Asylantragstellung. Es ist nicht zu erkennen, dass der irakische Staat in seiner jetzigen Herrschaftsform diese Umstände zum Anlass für asyl- bzw. abschiebungsrelevante Verfolgungsmaßnahmen nehmen wird (vgl. dazu auch Nds.OVG, Beschl. vom 30.3.2004, AuAS 2004, 13, 14). Soweit der Kläger seine Rückkehr ausschließt, weil er - wie er in der mündlichen Verhandlung erklärt hat - als "Polizist" erneut Gefahren ausgesetzt wäre, kann dies die Annahme, ihm drohe deshalb politische Verfolgung, nicht begründen. Denn es ist nichts dafür erkennbar, dass der Kläger nur unter ausdrücklicher Offenlegung seiner früheren beruflichen Betätigung in den Irak zurückkehren kann, und er etwa zwangsweise erneut zum Polizeidienst herangezogen würde und deshalb einer erhöhten Gefährdung wegen der den Angehörigen der Polizeikräfte drohenden terroristischen Anschläge ausgesetzt wäre.

Dem Kläger drohen bei einer unterstellten Rückkehr auch keine landesweiten Gefahren, die ein Abschiebungshindernis unmittelbar nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG begründen.

Er hebt auf seine frühere berufliche Tätigkeit als Polizist ab, die ihn bei einer Rückkehr in den Irak Gefährdungen aussetzen würde. Ungeachtet dessen dass, wie dargestellt, er diese Tätigkeit nicht ausüben muss, beruft sich der Kläger damit auf die allgemeine unsichere Lage im Irak, nicht indes wie gefordert auf eine ihm als Einzelnen drohende Situation.

Auch soweit abgehoben wird auf die allgemeine unsichere Lage, terroristische Anschläge und wirtschaftlich schlechte Lebensumstände, handelt es sich dabei um Gefahren allgemeiner Art, die nicht zum Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 AuslG führen weil ihnen die gesamte Bevölkerung des betroffenen Landes - wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß - ausgesetzt ist.

Auch ein Anspruch des Klägers auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses auf der Grundlage einer verfassungskonformen Anwendung von § 53 Abs. 6 AuslG besteht nicht.

Ein gleichwertiger Abschiebungsschutz besteht im Falle des Klägers auf der Grundlage der baden-württembergischen Erlasslage.

Ist davon auszugehen, dass ein gleichwertiger Abschiebungsschutz hier gegeben ist, kann offen bleiben, ob dieser auch dem aus § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG folgenden (gleichwertig) entspricht. Jedenfalls scheidet eine Feststellung eines Abschiebungshindernisses in verfassungskonformer Anwendung von § 53 Abs. 6 AuslG aus.

Sie kommt unabhängig davon auch deshalb nicht in Betracht, weil eine außergewöhnliche ("extreme") Gefahrenlage für den Fall der Rückkehr des Klägers in den Irak nicht festgestellt werden kann.

Nicht zu verkennen ist alIerdings, dass die Sicherheitslage im Irak äußerst angespannt ist und Gewaltakte, wie der täglichen Berichterstattung durch die Medien zu entnehmen ist, an der Tagesordnung sind (Auswärtiges Amt <im Fo!genden AA>, Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Irak vom 7.5.2004; Süddeutsche Zeitung vom 30.6.2004). Auch die Kriminalität - vor allem in den Städten - hat zugenommen, wenn auch Polizei- und Ordnungskräfte begrenzte Erfolge im Kampf gegen die allgemeine Kriminalität aufweisen können (AA vom 7.5.2004). Ferner zeigt der innerirakische politische Machtkampf, dass eine erhebliche Gewaltbereitschaft besteht, wenn es um die zukünftige Teilhabe an der Regierungsmacht geht.

Indes lässt sich nicht feststellen, dass Terror und Gewalt landesweit erfolgen. Vielmehr sind es vorwiegend wirtschaftlich bedeutsame Objekte und lokale Bereiche, die von gewalttätigen terroristischen Anschlägen betroffen sind. So sind es vor allem die Besatzungstruppen, die mit ihnen zusammenarbeitenden Politiker und sonstige irakische Staatsangehörige, die mit Racheakten zu rechnen haben. Namentlich auch die neu gebildeten irakischen Polizeikräfte sind immer mehr Ziel von Anschlägen (AA vom 7.5.2004; Die Welt vom 16.4.2004).

Auch die Versorgungslage im Irak stellt sich nicht als extrem existenziell gefährdend dar. Die Lebensmittelversorgung ist seit der Wiederaufnahme des Oil-for-Food"-Programms nach den Kriegshandlungen wieder gewährleistet, auch wenn Millionen von Menschen auf fremde Hilfe angewiesen bleiben (AA vom 7.5.2004). Die Stromversorgung leidet zwar zunehmend unter den Anschlägen auf die Elektrizitätswerke (FAZ vom 21.6.2004) und wird - wie die mit ihr zusammenhängende Trinkwasserversorgung - als kritisch bezeichnet, ohne dass indes von einer "existenziellen Gefährdung" ausgegangen werden kann (AA vom 7.5. 2004). Eine befürchtete "humanitäre Katastrophe" ist ausgeblieben, wobei die Lage im Nordirak wegen der dort vorhandenen Verwaltungstrukturen besser ist als im Süden des Landes und im Zentralirak. Die medizinische Grundversorgung ist möglicherweise nicht im Einzelfall, aber dem Grunde nach gewährleistet (AA vom 7.5.2004).