VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 26.01.2005 - 5 A 52/04 - asyl.net: M6392
https://www.asyl.net/rsdb/M6392
Leitsatz:

Verpflichtung des Bundesamts auf Selbsteintritt, da der Kläger aus gesundheitlichen Gründen dringend auf den Beistand seines Onkels und seiner Schwester angewiesen ist.

 

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Italien (A), Asylverfahren, Zuständigkeit, Dubliner Übereinkommen, Verordnung Dublin II, Selbsteintrittsrecht, Ermessen, Schutz von Ehe und Familie, Psychische Erkrankung, Betreuungsbedürftigkeit, Beistandsgemeinschaft, Traumatisierte Flüchtlinge, Posttraumatische Belastungsstörung, Suizidgefahr, Fachärztliche Stellungnahmen, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, medizinische Versorgung, Dublin II-VO, Dublinverfahren,
Normen: GG Art. 16a; AufenthG § 60 Abs. 2 - 7; EG - VO Nr. 343/2003; DÜ Art. 3 Abs. 4; GG Art. 6 Abs. 1; EMRK Art. 8
Auszüge:

Die Klage ist hinsichtlich der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründet.

Nach dem Übereinkommen über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften gestellten Asylantrags (Dubliner Übereinkommen - DÜ -) vom 15. Juni 1990 (BGBI. 1994 II S. 791) ist die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig. Das Dubliner Übereinkommen ist trotz zwischenzeitlicher Ersetzung durch die EG-Verordnung Nr. 343/2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedsstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist - Dublin II - vom 18. Februar 2003 (ABI. EG Nr. L 50, 1) anwendbar, denn der Kläger hat sich vor dem 1. September 2003 als asylsuchend gemeldet (vgl. Art. 29 va Nr. 343/2003). Da nach den Feststellungen der Beklagten davon auszugehen ist, dass der Kläger über Italien in das Bundesgebiet eingereist ist, ist nach Art. 6 DÜ zwar grundsätzlich Italien für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig und hat sich auch zur Übernahme des Klägers bereit erklärt. Die Bundesrepublik ist aber verpflichtet, von ihrer Möglichkeit des Selbsteintritts in das Verfahren nach Art. 3 Abs. 4 DÜ Gebrauch zu machen. Nach Art. 3 Abs. 4 DÜ behält jeder Mitgliedstaat unter der Voraussetzung, dass der Asylbewerber dem Vorgehen zustimmt, das Recht, einen von einem Ausländer gestellten Asylantrag auch dann zu prüfen, wenn er aufgrund der im Dubliner Übereinkommen definierten Kriterien nicht zuständig ist. Die Prüfung des Asylantrages umfasst dabei nach Art. 1 Abs. 1 d) DÜ nicht nur Ansprüche nach Art. 16a GG, sondern auch Ansprüche auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG und auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 bis Abs. 7 AufenthG (vgl. übereinstimmend VG Regensburg, Beschl. v. 9.3.2004 - Ra 6 I S 04.30174 - NVwZ-RR 2004, 692 f.). Die Ausübung des Selbsteintrittsrechts liegt im Ermessen des Mitgliedsstaates. Ob dem Asylsuchenden ein subjektives Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über den Selbsteintritt eines bestimmten Mitgliedstaates zusteht, kann offen bleiben (vgl. ablehnend etwa VG Gießen, Beschl. v. 25.1.1996 - 5 G 33380/95.A (2) - NVwZ-Beil., 1996, 27; Hailbronner, Ausländerrecht, § 29 AsylVfG, Rdnr. 22). Denn im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 EMRK, der die familiäre Beziehung zu allen nahen Verwandten schützt, ist das Ermessen vorliegend auf die Ausübung des Selbsteintrittsrecht reduziert mit der Folge eines dahingehenden Anspruchs des Klägers (vgl. GK-AsylVfG, § 29 AsylVfG, Rdnr. 93). Nach den vorliegenden fachärztlichen Bescheinigungen und dem psychiatrischen Gutachten ist davon auszugehen, dass der Kläger dringend auf den Beistand und die Lebenshilfe seines als asylberechtigt anerkannten Onkels H., bei dem er lebt, und dessen Familie sowie seiner Schwester I., für die das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG festgestellt worden ist, angewiesen ist. Der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. F. führt in der fachärztlichen Bescheinigung vom 16. September 2003 aus, dass es aus ärztlicher Sicht unbedingt erforderlich sei, dass der Kläger weiterhin in der Obhut seines Onkels und dessen Familie verbleibe. Ein erzwungener Ortswechsel würde danach die psychische Verfassung des Klägers so erheblich verschlechtern, dass mit suizidalen Handlungen gerechnet werden müsse. In

dem psychiatrischen Gutachten der Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie des Landkreises Hameln-Pyrmont, Frau G., vom 12. Januar 2004 wird insofern ausgeführt, dass der Kläger unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leide, die so schwerwiegend sei, dass nur durch eine geeignete psychiatrische Therapie in einer für den Kläger sicheren psychosozialen Umgebung bei seiner Familie in Hameln eine Stabilisierung erfolgen könne. Sollte dies nicht gewährleistet sein, müsse mit hoher Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden, dass sich der Kläger selbst gefährde.

Der Kläger hat Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Nach dem psychiatrischen Gutachten von Frau G. vom 12. Januar 2004, das unter ergänzender Berücksichtigung der fachärztlichen Bescheinigungen des Dr. F. und der Arztbriefe der Nds. Landeskrankenhäuser Königslutter und Hildesheim nachvollziehbar und überzeugend ist, leidet der Kläger unter einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung als Folge schwerster Traumatisierungen von Kindheit an.

Nach der Auskunftslage kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass für den Kläger eine psychotherapeutische Behandlung in der Türkei gesichert wäre. Die rein medizinische Versorgung psychisch kranker Menschen ist in der Türkei zwar gewährleistet, weiterführende Therapien können aber aus fachlichen und finanziellen Gründen im Allgemeinen nicht angeboten werden (Auswärtiges Amt, Anlage zum Lagebericht vom 19.5.2004 und Anlage zum Lagebericht vom 9.10.2002). Auf den privatärztlichen Sektor kann der Kläger angesichts der zu erwartenden hohen Behandlungskosten, die die zumutbaren Unterstützungsleistungen seiner Verwandten übersteigen, nicht verwiesen werden. Eine Erwerbstätigkeit ist ihm aufgrund seiner Erkrankung nicht möglich.