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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 07.12.2004 - 1 C 14.04 - asyl.net: M6395
https://www.asyl.net/rsdb/M6395
Leitsatz:

Kein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungshindernis wegen drohender Folter gemäß § 53 AuslG für führenden Exilpolitiker. (Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Kalifatsstaat, Islamisten, Fundamentalisten, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Foltergefahr, menschenrechtswidrige Behandlung, Strafverfolgung, Strafverfahren, Faires Verfahren, Folter, Haftbedingungen, Strafmaß, Haftdauer, Staatsschutzdelikte, Religionsfreiheit, Religiöses Existenzminimum, EGMR, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, Unterzeichnerstaat
Normen: AuslG § 53 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 4; EMRK Art. 3; EMRK Art. 9; EMRK Art. 6
Auszüge:

Das Berufungsgericht hat im Ergebnis zu Recht angenommen, dass der Kläger nicht beanspruchen kann, die Beklagte zu der Feststellung zu verpflichten, dass zielstaatsbezogene, also die Türkei betreffende Abschiebungshindernisse gemäß § 53 AuslG vorliegen.

Auf ein Abschiebungshindernis wegen drohender Folter (§ 53 Abs. 1 AuslG) kann sich der Kläger nicht berufen. Die Annahme des Berufungsgerichts, dass dem Kläger in der Türkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die konkrete Gefahr droht, der Folter unterworfen zu werden, ist nicht zu beanstanden. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ist zwar davon auszugehen, dass trotz einiger gesetzgeberischer Reformen und weiterer ernsthafter Bemühungen der türkischen Regierung um eine Verbesserung der Menschenrechtssituation nach wie vor die generelle Gefahr zum Teil systematischer asylerheblicher Misshandlungen durch Sicherheitskräfte besteht; dies gilt vor allem in den ersten Tagen des Polizeigewahrsams (UA S. 22 ff.).

Das Berufungsgericht hat aber im Falle des Klägers Umstände festgestellt, die die Gefahr der Folter als deutlich herabgesetzt erscheinen lassen. So hat das zuständige Gericht in (...), bei dem sämtliche Strafverfahren gegen den Kläger verbunden sind, ausweislich eines Schreibens an die Justizbehörden in Deutschland angeordnet, den Kläger nicht der Polizei, sondern unmittelbar dem Gericht vorzuführen. Das türkische Außenministerium hat ebenfalls ausdrücklich zugesichert, der Kläger werde nicht auf eine Polizeiwache gebracht, sondern direkt "vor Gericht erscheinen". In einer weiteren Verbalnote hat die Türkei erklärt, eine Vernehmung des Klägers werde nur durch einen Richter erfolgen (jeweils UA S. 25 f.). Der Bekanntheitsgrad und die politische Bedeutung des Klägers setzten die Gefahr von Folter - ähnlich wie im Falle des PKK-Führers Abdullah Öcalan (vgl. Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - EGMR, Urteil vom 12. März 2003 - 46221/99-, EuGRZ 2003, 472, 485 Nr. 226) - noch weiter herab, zumal der Fall des Klägers nach der Einschätzung des Berufungsgerichts unter intensiver Beobachtung insbesondere der deutschen Presse sowie der Menschenrechtsorganisationen und der EU-Kommission stehen wird (UA S. 30 f.).

Das Berufungsgericht hat im Ergebnis zutreffend erkannt, dass der Kläger auch keinen Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 4 AuslG in Verbindung mit der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBI 1952 II S. 685) - EMRK - beanspruchen kann. Der Kläger macht in diesem Zusammenhang - neben der schon bei § 53 Abs. 1 AuslG berücksichtigten Foltergefahr - im Wesentlichen geltend, er befürchte in der Türkei unangemessen hart bestraft und in der Haft, auch hinsichtlich seiner Krankheit, unmenschlich bzw. erniedrigend behandelt zu werden (Art. 3 EMRK). Im Hinblick auf die mögliche Verwertung der durch Folter erpressten Zeugenaussagen erwarte ihn kein faires Strafverfahren (Art. 6 EMRK); in der Haft drohe ihm eine Einschränkung seiner Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK).

Hinsichtlich dieser befürchteten Verstöße ist dem Kläger die Berufung auf die EMRK aber schon deshalb verwehrt, weil er - ohne dass ihm irreparable Schäden drohten - gegen sie auch von der Türkei aus wirksamen Rechtsschutz erlangen kann. Der Schutz vor Abschiebung in einen Vertragsstaat der EMRK unterliegt nicht denselben Voraussetzungen wie der Schutz vor Abschiebung in einen Nicht-Vertragsstaat.

Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ist in der Türkei die Möglichkeit eröffnet, Konventionsverletzungen vor dortigen Gerichten und im innerstaatlichen Rechtsmittelzug geltend zu machen (UA S. 47 und 54 f.). Der Betroffene kann außerdem Individualbeschwerde zum EGMR erheben. Was Konventionsverstöße in einem Strafverfahren betrifft, ist die türkische Strafprozessordnung dahingehend geändert worden, dass nunmehr innerhalb eines Jahres eine Wiederaufnahme des Strafverfahrens beantragt werden kann, wenn der EGMR entschieden hat, dass ein Strafurteil unter Verletzung der EMRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle zustande gekommen ist (UA S. 55 f.). Das Berufungsgericht hat ferner festgestellt, dass inzwischen eine Reihe derartiger Wiederaufnahmeverfahren durchgeführt worden sind und einige dieser Verfahren zu einem Freispruch der Angeklagten geführt haben (UA S. 56). Nach weiteren Feststellungen des Berufungsgerichts respektiert die Türkei auch einstweilige Anordnungen des EGMR und setzt sie jeweils korrekt um (UA S. 55). Der EGMR hat in seiner neueren Rechtsprechung zudem die rechtliche Verbindlichkeit der von ihm bestimmten vorläufigen Maßnahmen angeordnet (vgl. Urteil vom 6. Februar 2003 - 46827/99 und 46951/99 - Mamatkulov u.a. gegen Türkei, EuGRZ 2003, 704). Unter diesen Umständen und angesichts der Gegebenheiten des Falles muss der Kläger sich darauf verweisen lassen, seine Rechte gegenüber möglichen Konventionsverletzungen in der Türkei und von der Türkei aus wahrzunehmen. Denn ihm drohen auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit schwere und irreparable Misshandlungen, gegen die ein Rechtsschutz von der Türkei aus zu spät käme.

Soweit der Kläger Haftbedingungen erwartet, die gegen Art. 3 EMRK verstoßen, wird dies durch die Feststellungen des Berufungsgerichts nicht gestützt. Das Gericht hat sich, ausgehend von zutreffenden rechtlichen Maßstäben, ausführlich mit den Verhältnissen in türkischen Haftanstalten, auch des vom Kläger angesprochenen Typs F, befasst und - auf den Kläger bezogen - keine beachtlichen Anhaltspunkte für menschenunwürdige Zustände ermitteln können. Es hat festgestellt, dass die Haftbedingungen in Gefängnissen des Typs F, in denen der Kläger als politischer Tatverdächtiger möglicherweise vorübergehend untergebracht werde, insbesondere nach einem Bericht der Anti-Folter-Kommission des Europarates nach wie vor nicht, unproblematisch seien (Isolationssituation), sich aber erheblich verbessert hätten (UA S. 28 ff.). Es gibt Hinweise, dass der Kläger nach einer Verurteilung in der Haftanstalt auf der Insel lmrali untergebracht werden soll, in der auch der PKK-Führer Öcalan einsitzt. Der von Öcalan angerufene EGMR hat jedoch keine unmenschlichen Haftbedingungen dort festgestellt.

Was das vom Kläger befürchtete Strafmaß angeht und damit die Dauer der Haft, die ihm in der Türkei droht, hat das Berufungsgericht einen Anspruch auf Abschiebungsschutz aus Art. 3 EMRK zu Recht verneint. Dem Kläger werden von der türkischen Justiz Staatsschutzdelikte vorgeworfen. Art. 5 Abs. 1 Buchst. a EMRK lässt das Recht jedes Konventionsstaates unangetastet, nach seinen Strafgesetzen Freiheitsstrafen zu verhängen (vgl. auch § 53 Abs. 5 AuslG). Nur bei einem offenkundigen Missverhältnis zwischen dem Unrechtsgehalt der Tat bzw. der Schuld des Täters auf der einen und dem verhängten Strafmaß auf der anderen Seite kommt ein Verstoß gegen die EMRK in Betracht. Auch gegen eine solche Konventionsverletzung kann der Betroffene aber Individualbeschwerde zum EGMR erheben. Selbst wenn man, wie der Kläger, die Auffassung vertreten wollte, Art. 3 EMRK fordere - wie das deutsche Verfassungsrecht - bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe die "Chance", vorzeitig entlassen zu werden, ist dies nach den Feststellungen des Berufungsgerichts in der Türkei ebenfalls nicht ausgeschlossen.

Abschiebungsschutz kann der Kläger auch nicht im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK beanspruchen. Es bedarf keiner abschließenden Erörterung, ob und unter welchen Voraussetzungen die Gefahr, dass in einem Strafprozess durch Folter erpresste Aussagen verwertet werden, ein Abschiebungsverbot aufgrund der in Art. 6 EMRK geschützten Garantie auf ein faires Verfahren begründen kann (vgl. auch Art. 15 des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984 - UN-Antifolterkonvention, BGBI 1990 S. 246, der die Verwertung von durch Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erlangten Aussagen in einem Strafverfahren verbietet). Nach den oben dargestellten Grundsätzen kommt dies in Betracht, wenn dem Betroffenen im Abschiebezielstaat hierdurch Beeinträchtigungen drohen, die einen äußersten menschenrechtlichen Mindeststandard unterschreiten und in einen absolut geschützten Menschenrechtskern eingreifen. Der EGMR hat ein Abschiebungsverbot aufgrund des Art. 6 EMRK ausnahmsweise in Fällen für denkbar gehalten, in denen der Betroffene im Abschiebezielstaat eine offenkundige Verweigerung eines fairen Prozesses erfahren musste oder hierfür ein Risiko besteht (Urteil vom 7. Juli 1989, a.a.O., Soering, EuGRZ 1989, 314). Bei der Abschiebung in einen anderen Vertragsstaat der Menschenrechtskonvention kommt einschränkend hinzu, dass ein Abschiebungsverbot, wie oben dargelegt, nur dann angenommen werden kann, wenn dem Ausländer nach seiner Abschiebung schwere und irreparable Misshandlungen drohen und effektiver Rechtsschutz - auch durch den EGMR - nicht oder nicht rechtzeitig zu erreichen ist.

Bei Verstößen gegen Verfahrensgarantien, die in aller Regel korrigierbar sind, ist allenfalls in atypischen Ausnahmefällen vorstellbar, dass dem Betroffenen schwere und insbesondere irreparable Beeinträchtigungen drohen. In jedem Falle ist nach den Feststellungen des Berufungsgerichts davon auszugehen, dass für den Kläger effektiver Rechtsschutz erreichbar ist.

Selbst wenn man - abweichend hiervon - unterstellt, der Kläger könne nicht innerhalb eines noch zumutbaren Zeitraums effektiven Rechtsschutz zumindest durch den EGMR erlangen, so hat er nach den Feststellungen des Berufungsgerichts auch deshalb keine schweren und irreparablen Beeinträchtigungen zu befürchten, weil er unabhängig von den strafrechtlichen Vorwürfen, mit denen die nach seinem Vortrag durch Folter erpressten Aussagen zusammenhängen, eine Verurteilung zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe zu erwarten hat.

Ebenfalls ohne Erfolg beansprucht der Kläger Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 4 AuslG i. V .m. Art. 9 und Art. 8 EMRK. Was die vom Kläger befürchteten Einschränkungen seiner Religionsfreiheit betrifft, hat das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt, dass allenfalls dann ein Abschiebungsverbot aus der Menschenrechtskonvention in Betracht kommt, wenn das sog. religiöse Existenzminimum betroffen ist (vgl. Urteile vom 24. Mai 2000, a.a.O., BVerwGE 111, 223 229 f.> und vom 20. Januar 2004 - a.a.O., BVerwGE 120, 16 20 f.> m.w.N.). Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Türkei die Religionsfreiheit des Klägers in deren unbedingt zu schützendem menschenrechtlichen Kern nicht respektieren wird, sind vom Kläger nicht vorgetragen worden und aufgrund der Festtellungen des Berufungsgerichts auch sonst nicht erkennbar. Notwendige Einschränkungen der Religionsausübung, die damit zusammenhängen, dass sich der KIäger voraussichtlich längere Zeit in Haft befinden wird, hat der Kläger hinzunehmen (Art. 9 Abs. 2 EMRK). Sollte es zu konventionswidrigen Eingriffen in die Religionsfreiheit des Klägers kommen, kann er Rechtsschutz In der Türkei bzw. beim EGMR in Anspruch nehmen.