VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 14.03.2005 - 12 A 4198/02 - asyl.net: M6402
https://www.asyl.net/rsdb/M6402
Leitsatz:
Schlagwörter: Serbien und Montenegro, Kosovo, Albaner, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, Extreme Gefahrenlage, Unruhen, Sicherheitslage, Krankheit, Medizinische Versorgung, Asthma bronchiale, psychische Erkrankung, Posttraumatische Belastungsstörung, Kinder, Finanzierbarkeit, Krankenversicherung, Registrierung, Niederlassungsfreiheit, Situation bei Rückkehr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die Kläger zu 1), zu 2), zu 4) und zu 5) haben keinen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten festzustellen, dass die Voraussetzungen des am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen und hier gem. § 77 Abs. 1 S. 1 2. HS AsylVfG maßgeblichen § 60 Abs. 7 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG) vom 30. Juli 2004 (BGBL. I S. 1950), der dem § 53 Abs. 6 AuslG entspricht, vorliegen.

Dies gilt zunächst - auch für den Kläger zu 3) - bzgl. ihrer Volkszugehörigkeit.

Zur Begründung wird insoweit Bezug genommen auf die Ausführungen in dem Grundsatzurteil des VG Oldenburg vom 10. Februar 2004 - 12 A 4665/02, sowie dem Urteil der Einzelrichterin vom 22. November 2004 - 12 A 1177/02 -.

Danach besteht aufgrund der Sicherheitslage und der wirtschaftlichen und sozialen Lage für albanische Volkszugehörige nicht die aktuelle Gefahr, bei einer Rückkehr in den Kosovo dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert zu sein. Aus diesem Grund kann eine Extremgefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 AufenthG nicht angenommen werden (vgl. auch Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 27. November 2002 und vom 10. Februar 2004).

Zu ergänzen ist lediglich, dass auch die Ausschreitungen im Kosovo vom 16. bis 19. März 2004 nicht die Annahme einer Extremgefahr im Hinblick auf die Sicherheitslage für albanische Volkszugehörige im Kosovo rechtfertigen.

Dem Kläger zu 3) steht jedoch Abschiebungsschutz zu.

Ein individuelles Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG kann sich aus der Gefahr ergeben, dass sich die Krankheit des ausreisepflichtigen Ausländers in seinem Heimatstaat verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind.

Insbesondere der für ihn vorgelegten kinder- und jugendpsychiatrischen Stellungnahme des Klinikums Oldenburg vom 3.2.2005 ist zu entnehmen, dass er an einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer generalisierten Angststörung im Kindesalter, einer Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion, sowie weiteren Störungen vor dem Hintergrund multipler Kriegstraumata leidet. Er erhält daher seit Februar 2003 eine dringend indizierte kontinuierliche psychotherapeutische Behandlung auf unabsehbare Dauer. Eine Rückkehr würde nach Einschätzung der behandelnden Ärzte zu einer Retraumatisierung bzw. Dekompensation bis hin zu einer suizidalen Gefährdung führen.

Bezogen auf den Kosovo kann die psychische Erkrankung des Klägers zu 3), die das Gericht auch aufgrund der festgestellten Entwicklung zur Suizidalität als besonders schwerwiegend erachtet, unter Zugrundelegung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel nicht ausreichend medizinisch behandelt werden, um erhebliche konkrete Gefahren für Leib und Leben des Klägers zu 3) abzuwenden.

Zwar sind laut Auskunft des Deutschen Verbindungsbüros Kosovo vom 18. Juni 2004 psychische Erkrankungen, insbesondere anhaltende depressive Verstimmungen im Kosovo medikamentös und durch kontinuierliche nervenärztliche Betreuung behandelbar.

Andererseits wird aber berichtet, dass in Nachkriegsgebieten wie dem Kosovo mit einer deutlichen erhöhten Rate von ca. 7 bis 10 v.H. der Bevölkerung an psychisch Kranken, die einer Behandlung bedürfen, zu rechnen sei (Schlüter-Müller, Sachverständigengutachten an VG Frankfurt a.M. vom 29. Juli 2003).

Nach dem Gutachten von Dr. Schlüter-Müller gibt es im Kosovo nur eine sehr schwache psychiatrische Grundversorgung So stünden sieben ambulante neuro-psychiatrische Dienste zur Verfügung. Die Behandlung erfolge ausschließlich medikamentös; der Prävention komme keine Bedeutung zu. Im Kosovo arbeiteten lediglich zwei Psychologen mit posttraumatischen Belastungsstörungen. Der Großteil der Neuro-Psychiater arbeitete ebenfalls mit diesem Störungsbild, ohne dafür jedoch eine Ausbildung zu haben. Die Zustände in der Psychiatrie im Kosovo seien "unbeschreiblich schrecklich".

Den o.g. Erkenntnismitteln ist zu entnehmen, dass sich die dort dargestellte Situation nicht ausreichender Behandelbarkeit psychischer Erkrankungen im Kosovo noch nicht wesentlich verbessert hat. Entsprechend lautet auch die aktuelle gemeinsam von UNMIK, dem Office of Returns and Communities und dem Gesundheitsministerium des Kosovo erarbeitete Stellungnahme vom Januar 2005, wonach eine ausreichende Behandlung psychisch kranker Menschen, insbesondere an PTBS Erkrankter im Kosovo nicht gewährleistet ist. Dort ist im einzelnen ausgeführt, dass eine über die Verabreichung von Medikamenten hinausgehende für diese Patienten erforderliche Behandlung vor allem an Kapazitätsproblemen scheitert. UNMIK sei daher der Auffassung, dass Personen, die an PTBS erkrankt sind und sich aufgrund dieser Erkrankung in Behandlung befänden, nicht zwangsweise in das Kosovo abgeschoben werden sollten.

Zusammenfassend ergibt sich danach, dass schwerwiegende psychische Erkrankungen, die eine über die medikamentöse Einstellung hinausgehende psychotherapeutische Therapie erfordern, im Kosovo nicht ausreichend behandelbar sind.

Dies gilt für den Kläger zu 3) als einem Kind umso mehr, da für ihn viele selbst der genannten vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten, insbesondere die medikamentösen Eingriffe ungeeignet sein dürften. So ist in der genannten gemeinsamen Auskunft der UNMIK etc. vom Januar 2005 auch noch einmal besonders hervorgehoben, dass eine psychologische Betreuung von Kindern im Kosovo generell noch nicht gewährleistet ist.

Der Gesundheitszustand des Klägers zu 3) würde sich auch dann wesentlich verschlechtern, so dass eine erhebliche konkrete Gefährdung von Leib und Leben zu befürchten wäre, wenn er nicht im Kosovo, sondern in die übrigen Landesteile Serbiens oder Montenegros leben müsste. Ihm steht in diesen Landesteilen eine zumutbare Alternative nicht zur Verfügung. Das Gericht ist nach den vorliegenden Erkenntnismitteln davon überzeugt, dass der Kläger zu 3) auch in den übrigen Landesteilen Serbiens und in Montenegro eine ausreichende medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen könnte.

Die medizinische Versorgung ist dort zwar grundsätzlich gewährleistet.

Auch sind psychische Erkrankungen (u.a. Depressionen, Traumata) in Serbien und Montenegro behandelbar (Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 16. Oktober 2002 und 28. Juli 2003; Deutsche Botschaft Belgrad an VG Aachen vom 12. August 2003, an VG Freiburg vom 6. August 2003 und 8. Mai 2003; Auswärtiges Amt an VG Köln vom 11. April 2003).

Ob dies auch für Kinder zudem albanischer Volkszugehörigkeit gilt, muss allerdings vor dem Hintergrund der genannten Erkenntnismittel bezweifelt werden. Dies kann jedoch im Ergebnis offengelassen werden, denn die psychotherapeutische Behandlung im Rahmen der staatlichen Gesundheitsfürsorge wäre nur dann für den Betroffenen kostenlos, wenn er in der staatlichen Krankenversicherung versichert ist. Andernfalls sind für Medikamente und Psychotherapie die üblichen Marktpreise zu entrichten. Nach Angaben der Deutschen Botschaft in Belgrad müsse ein psychiatrischer Patient durchschnittlich mit Kosten zwischen 50,00 und 60,00 EUR/Monat für die erforderlichen Medikamente rechnen und die Kosten einer Psychotherapie würden ca. 80,00 bis 100,00 EUR monatlich betragen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 28. Juli 2003; Auswärtiges Amt an BAFL vom 11. April 2003, an VG Köln vom 11. April 2003 und an VG Frankfurt (Main) vom 28. August 2002; Deutsche Botschaft Belgrad an VG Aachen vom 12. August 2003 und an BAFL vom 4. März 2003).

Dem Kläger zu 3) werden die medizinischen Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitswesens in Serbien und Montenegro (außerhalb des Kosovo) im Rahmen des dortigen Krankenversicherungsschutzes tatsächlich nicht offen stehen. Für die Inanspruchnahme von sozialen Diensten einschließlich der gesetzlichen Krankenversicherung ist in Serbien und Montenegro die Registrierung erforderlich. Aus dem Kosovo übergesiedelte Bürger können in Serbien und Montenegro nur dann im Rahmen der dortigen Krankenversiche-rung behandelt werden, wenn sie den Status eines Ausgesiedelten, Vertriebenen oder Flüchtlings haben; alle anderen Personen aus dem Kosovo müssen ihre medizinische Behandlung in Serbien und Montenegro (außerhalb des Kosovo) bezahlen, so dass de facto Einwohner des Kosovo von der gesetzlichen (quasi kostenlosen) Krankenversorgung in Serbien und Montenegro (außerhalb des Kosovo) ausgeschlossen sind (vgl. Deutsche Botschaft Belgrad an VG Aachen vom 12. August 2003, an VG Leipzig vom 3. Juli 2003 und an Hessischen VGH vom 22. Mai 2003; Auswärtige Amt, Lagebericht vom 28. Juli 2003 und 24. Februar 2004; UNHCR an VG Koblenz vom 29. September 2003).

Die Registrierung stellt in der Praxis ein ernsthaftes Hindernis bei der Ausübung grundlegender Rechte wie dem Zugang zu Sozialleistungen, Gesundheitsfürsorge, Bildungseinrichtungen und Wohnraum dar. Für die Registrierung sind eine Reihe von Identitätsunterlagen erforderlich, wobei das Minderheitenministerium beabsichtigt, dies zu vereinfachen. Nach amnesty international ist intern Vertriebenen in Serbien und Montenegro seit April 2002 die Registrierung bereits erleichtert worden, dennoch bestehen hierbei weiterhin Schwierigkeiten (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 28. Juli 2003 und 24. Februar 2004; ai, Länderinformation vom 15. Oktober 2003; vgl. auch UNHCR an VG Koblenz vom 29. September 2003).

Zwar genießen die Staatsangehörigen von Serbien und Montenegro de jure Niederlassungsfreiheit auf dem gesamten Territorium der Union. Grundsätzlich besteht am Ort der Niederlassung auch der Anspruch auf Bezug der gesetzlich vorgesehenen Sozialleistungen (beispielsweise Sozialhilfe und Gesundheitsfürsorge). In der Praxis jedoch sind die lokalen Behörden in Serbien und Montenegro nach den Erfahrungen des Auswärtigen Amtes nicht bereit, aus anderen Gemeinden stammende mittellose Personen zu registrieren und ihnen Sozialleistungen zu gewähren. Aus dem Ausland einreisende mittellose Personen lassen sich deshalb nach den Erfahrungen des Auswärtigen Amtes in ihrer Heimatgemeinde nieder, sofern sie nicht (beispielsweise durch familiäre Beziehungen) ohne Inanspruchnahme öffentlicher Sozialleistungen in anderen Gemeinden ein Unterkommen finden. Eine legale Wohnsitznahme aus dem Kosovo stammender mittelloser Personen in anderen Regionen Serbiens und Montenegros ist unter diesen Umständen nur in Ausnahmefällen möglich (vgl. Auswärtiges Amt an VG Koblenz vom 25. März 2003; vgl. auch Auswärtiges Amt an VG Berlin vom 3. Februar 2003; UNHCR an VG Koblenz vom 4. September 2003; UNHCR an VG Koblenz vom 29. September 2003; ai, Länderinformation vom 15. Oktober 2003; a. A. wohl OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 15. Dezember 2003 - 3 LB 11/02 -, V.n.b.).

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 24. Mai 2004, die sich u.a. zur generellen Registrierungsmöglichkeit von Flüchtlingen aus dem Kosovo verhält, nicht jedoch zu den Umständen, unter denen eine solche Registrierung zu erlangen ist. Im übrigen hat das Auswärtige Amt in seiner Auskunft vom B. Februar 2005 an das VG Bremen noch einmal ausgeführt, dass albanische Volkszugehörige wie Angehörige der ethnischen Minderheiten aus dem Kosovo bei der Registrierung im übrigen Serbien und Montenegro mit erheblichem Widerstand der zuständigen Kommunalbehörden rechnen müssen.

Der begehrten Feststellung steht auch § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG nicht entgegen. Die aufgrund der fehlenden finanziellen Möglichkeiten des Klägers zu 3) resultierende Gefährdung stellt keine allgemeine Gefahr im Sinne dieser Vorschrift dar.

Nach Auffassung der Kammer kann nicht auf eine Gruppe der "mittellosen Erkrankten" abgestellt werden. Den betroffenen "mittellosen Erkrankten" droht gerade nicht dieselbe Gefahr. Die Gefahr für Leib und Leben der Betroffenen besteht nicht allein darin, keinen Zugang zum Gesundheitssystem zu haben, sondern in der konkreten Weiterentwicklung ihrer jeweiligen individuellen Krankheit; insoweit kann von einer gleichartigen Gefahr für die Betroffenen nicht ausgegangen werden. Dabei ist offenkundig, dass die verschiedenen Krankheiten und die sich hieraus ergebenden Gefährdungen sich erheblich unterscheiden. Wenn es aber Sinn und Zweck des § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG ist, eine Vielzahl gleichgelagerter Fälle wegen der Art der Gefahr einheitlich zu entscheiden, so können nicht sämtliche in einem Land vorkommenden Krankheiten deshalb rechtlich gleichgestellt werden, weil die Patienten das Schicksal der Mittellosigkeit teilen. Der Gruppe der mittellosen Erkrankten fehlt die erforderliche Homogenität bezogen auf die Art der Gefahr. Die den Betroffenen aufgrund ihrer individuellen Erkrankung drohenden Gefahren sind derart verschieden, dass sich eine generalisierende Betrachtung verbietet (vgl. gegen die Annahme einer allgemeinen Gefahr wegen unzureichender medizinischer Versorgung infolge fehlender finanzieller Mittel: VG Sigmaringen, Urteil vom 13. August 2003 - A 5 K 11176/03 -, Asylmagazin 1-2/2004, 42; ebenso im Ergebnis Hess. VGH, Urteil vom 24. Juni 2003 - 9 E 34260/94.A -, V.n.b.).