VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 09.03.2005 - 13 S 1815/04 - asyl.net: M6436
https://www.asyl.net/rsdb/M6436
Leitsatz:
Schlagwörter: Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Schutz von Ehe und Familie, Abschiebungshindernis, Duldung, Zumutbarkeit, Reisefähigkeit, Familienangehörige
Normen: GG Art. 6 Abs. 1; AufenthG § 25 Abs. 5; AufenthG § 29 Abs. 3 S. 2
Auszüge:

Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass er nach § 60 a Abs. 2 AufenthG Anspruch auf Erteilung einer Duldung hat; denn es ist überwiegend wahrscheinlich, dass seine Abschiebung mit Blick auf die eheliche Lebensgemeinschaft mit Frau M. wegen Art. 6 Abs. 1 GG rechtlich unmöglich ist. Die Erteilung einer Duldung nach § 60 a Abs. 2 AufenthG scheidet nicht etwa deshalb aus, weil es dem Antragsteiler erkennbar darum geht, die eheliche Lebensgemeinschaft mit seiner Ehefrau auf unabsehbare Zeit im Bundesgebiet fortzuführen. Zwar kommt der Duldung, die nach § 60 a AufenthG nur die zeitweise Aussetzung der Abschiebung beinhaltet, nicht die Funktion eines ersatzweise gewährten Aufenthaltsrechts zu. Typischerweise wird daher in den Fällen, in denen Art. 6 Abs. 1 GG (oder Art. 3 EMRK) der Entfernung des Ausländers aus dem Bundesgebiet dauerhaft entgegen steht und die Abschiebung mithin aus rechtlichen Gründen unmöglich ist, diesem Abschiebungshindernis nicht durch Erteilung einer Duldung gemäß § 60 a Abs. 2 AufenthG entsprochen werden können; vielmehr ist bis zum 31.12.2004 vorrangig die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis nach § 30 Abs. 3 AuslG ins Auge zu fassen gewesen (BVerwG, Urt. v. 04.06.1997 - 1 C 9.95 -, BVerwGE 105, 35) bzw. kommt nunmehr die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG in Betracht. Im vorliegenden Fall könnte zwar im Hinblick auf die bereits im Jahre 2004 anhängig gewordene Klage des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis noch die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis nach § 31 AuslG rechtlich möglich sein; nach neuem Recht dürfte dagegen die Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug wegen § 29 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zweifelhaft sein, wenn man davon ausginge, dass die dort genannte Vorschrift des § 25 Abs. 5 AufenthG das Äquivalent zu § 30 Abs. 3 (und 4) AuslG darstellt. Mangels hinreichender Anhaltspunkte für eine Ermessensreduzierung "auf Null" hätte der Antragsteller insoweit aber ohnehin lediglich Anspruch auf fehlerfreie Ausübung des nach § 31 AuslG eröffneten Ermessens, so dass vorrangig der Rechtsanspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60 a Abs. 2 AufenthG als das durch die begehrte einstweilige Anordnung zu sichernde Recht anzusehen ist (vgl. Senatsbeschluss v. 29.03.2001 - 13 S 2643/00 -, VBlBW 2001, 416 = InfAuslR 2001, 233).

Dass dem Antragsteller jedenfalls wegen der ehelichen Lebensgemeinschaft mit Frau M. ein rechtliches Abschiebungshindernis aus Art. 6 Abs. 1 GG zur Seite steht, ist nach Aktenlage überwiegend wahrscheinlich. Entsprechend gilt dies im Hinblick auf Art. 8 EMRK, der keinen weitergehenden Schutz vermittelt, soweit sich - wie im vorliegenden Fall - sein Anwendungsbereich mit dem des Art. 6 GG deckt (BVerwG, Urt. v. 09.12.1997 - 1 C 19.96 -, BVerwGE 105, 13).

Art. 6 Abs. 1 GG, der Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt, führt zur Annahme eines rechtlichen Abschiebungshindernisses im Sinne von § 60 a Abs. 2 AufenthG, wenn es denn Ausländer nicht zuzumuten ist, seine familiären Beziehungen durch Ausreise zu unterbrechen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts gewährt Art. 6 GG zwar unmittelbar keinen Anspruch auf Aufenthalt. Die entscheidende Behörde hat aber die familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, bei der Anwendung offener Tatbestände und bei der Ermessensausübung pflichtgemäß, d.h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz von Ehe und Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über den Aufenthalt seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen (BVerwG, Urt, v. 09.12.1991, a.a.O., m.w.N). Dies gilt auch bei der Prüfung der rechtlichen Unmöglichkeit einer Abschiebung im Sinne des § 60 a Abs. 2 AufenthG. Bei der Gewichtung der durch Art. 6 GG geschützter Bindungen des Antragstellers im Bundesgebiet geht der Senat davon aus, dass eine eheliche Lebensgemeinschaft mit seiner Ehefrau besteht; gegenteilige Hinweise lassen sich weder den umfangreichen Akten der Antragsgegnerin noch dem Vortrag im vorliegenden Verfahren entnehmen. Eine eheliche Lebensgemeinschaft ist in der Regel durch eine gemeinsame Lebensführung in der Form der Beistandsgemeinschaft gekennzeichnet, in der dem Ehegatten dauernde Hilfe und Unterstützung zuteil wird (BVerwG, Urt. v. 09.12.1997, a.a.O.). Zur Entfaltung eines gemeinsamen Lebens gehört im Allgemeinen eine gemeinsame Wohnung, die bei dem Antragsteller und Frau M. vorhanden ist.

Der Senat verkennt nicht, dass Frau M. bislang nicht Über ein eigenes Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik verfügt. Doch ist andererseits zu berücksichtigen, dass sie sich zum einen, wie auch amtsärztlich festgestellt wurde, in einem derart schlechten gesundheitlicher Zustand befinden soll, dass sie reiseunfähig ist. Zum anderen hat, wie oben ausgeführt, das Verwaltungsgericht Stuttgart die Antragsgegnerin mit rechtskräftigem Urteil von 15.04 2004 (1 K 153/04) verpflichtet, über ihren Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis unter Beachtung seiner Rechtsauffassung erneut zu entscheiden, wobei es die Tatbestandsvoraussetzungen von § 30 Abs. 5 und 3 AuslG als gegeben ansah. Vor diesem Hintergrund kommt nach Auffassung des Senats eine Fortführung der Ehe im Heimatland des Antragstellers und dessen Ehefrau wohl nicht in Betracht. Außerdem spricht einiges dafür, dass Frau M. wegen ihres Gesundheitszustandes, der gerade auch in psychischer Hinsicht angegriffen sein soll, auf die Fortführung der Lebensgemeinschaft mit dem Antragsteller angewiesen sein dürfte. Im Übrigen dürfte es dem Antragsteller in Anbetracht der Ausschlussvorschrift in § 29 Abs. 3 Satz 2 AufenthG - sowie der generellen Unwägbarkeiten des Visumsverfahrens - kraft höherrangigen Rechts nicht zuzumuten sein, das Bundesgebiet zum Zwecke der Erfüllung der Einreisevorschriften auf - in seinem Fall - unabsehbare Zeit zu verlassen. Die Annahme eines aus Art. 6 Abs. 1 GG (und Art. 8 EMRK) folgenden Abschiebungshindernisses führt schließlich nicht zu einem Wertungswiderspruch zu sonstigen aufenthaltsrechtlichen Vorschriften. Allerdings ist bei der Gewichtung der nach Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützten familiären Belange des Ausländers im Hinblick auf die rechtliche Zulässigkeit einer zwangsweisen Beendigung der ehelichen Lebensgemeinschaft, soweit sie im Bundesgebiet geführt wird, maßgeblich zu berücksichtigen, ob nach den einschlägigen Regelungen des Ausländergesetzes über den Familiennachzug eine Zuwanderung ermöglicht werden soll, wogegen gerade die seit dem 01.01.2005 geltende Vorschrift des § 29 Abs. 3 Satz 2 AufenthG spricht. Im Falle des Antragstellers und seiner Ehefrau kann aber nicht außer Acht gelassen werden, dass, solange die Reiseunfähigkeit von Frau M. auf unabsehbare Zeit fortbesteht, die eheliche Lebensgemeinschaft nur in Deutschland geführt werden kann. Vom Antragsteller in dieser Situation zu verlangen, das Bundesgebiet zu verlassen, hieße letztlich von ihm zu verlangen, die eheliche Lebensgemeinschaft auf unabsehbare Zeit, ggf. sogar auf Dauer, aufzugeben. Angesichts der Schwere dieses Eingriffs in der Schutzbereich des Grundrechts dürfte das öffentliche Interesse an der Beschränkung des Familiennachzugs zurückzutreten haben, zumal bei dem Antragsteller und seiner Ehefrau nach Aktenlage, außer dem im Urteil des Verwaltungsgericht Stuttgart vom 15.04.2004 genannten Sozialleistungsbezug (den das Gericht indes ausnahmsweise nicht als Regelversagungsgrund einstufte), keine darüber hinausgehenden Anzeichen für eine Beeinträchtigung oder Gefährdung der öffentlichen Interessen der Bundesrepublik Deutschland (vgl. § 5 Abs. 1 AufenthG) erkennbar sind.