OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 02.02.2005 - 8 A 59/04.A - asyl.net: M6455
https://www.asyl.net/rsdb/M6455
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Kurden, Krankheit, Psychische Erkrankung, Cerebrales Anfallsleiden, Epilepsie, Behinderte, Geistig Behinderte, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Yesil Kart, Grüne Karte, Mitgabe von Medikamenten
Normen: AuslG § 53 Abs. 6; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die Klägerin hat - bezogen auf die Türkei - keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG, der mit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004 am 1. Januar 2005 an die Stelle von § 53 Abs. 6 AuslG getreten ist.

Ihr droht im Falle ihrer Rückkehr in die Türkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine wesentliche oder sogar lebensbedrohliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes.

Denn die Krankheit der Klägerin ist in der Türkei behandelbar. Für die Klägerin ist die erforderliche medizinische Versorgung in der Türkei auch erreichbar; sie muss aufgrund möglicher Unzulänglichkeiten des staatlichen Gesundheitssystems nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine gravierende Verschlechterung ihrer Erkrankung befürchten.

Ausweislich der zahlreichen vorgelegten Arztberichte leidet die Klägerin seit ihrem ersten oder zweiten Lebensjahr an einem cerebralen Anfallsleiden, aufgrund dessen es mehrmals wöchentlich bis mehrfach täglich zu epileptischen Krampfanfällen von kurzer Dauer (mehrere Sekunden) kommt. Die Anfälle sind durch ruckartige Zuckungen der oberen Extremitäten und jedenfalls seit dem siebten Lebensjahr auch durch Hinstürzen gekennzeichnet. Darüber hinaus leidet die Klägerin an einer extremen geistigen Retardierung bei fehlender Sprachentwicklung, autistischen Zügen und einer Bewegungs- und Koordinationsstörung mit Spastik.

Die Klägerin wurde wegen ihres Gesundheitszustandes bereits in der Türkei vor ihrer Ausreise medikamentös behandelt. Auch in der Bundesrepublik Deutschland steht die medikamentöse Behandlung im Vordergrund. Im Rahmen wiederholter stationärer Krankenhausaufenthalte wurde die Medikamentierung mehrfach verändert, ohne dass Anfallsfreiheit erreicht werden konnte. Seit Juli 2003 wird die Klägerin mit dem Medikament Energyl mit dem Wirkstoff Valproinsäure behandelt. Aufgrund der guten Verträglichkeit dieses Medikaments hält der behandelnde Arzt des Marienhospitals H., Herr Dr. F., unter Hinweis auf entsprechende Therapierichtlinien Routinelaborverlaufskontrollen für entbehrlich.

Das Krankheitsbild der Klägerin ist in der Türkei behandelbar. Nach den vorliegenden Erkenntnissen sind in der gesamten Türkei Antiepileptika in großer Auswahl erhältlich (vgl. Auskünfte der Deutschen Botschaft Ankara vom 28. November 2003 an das VG Kassel, vom 22. Januar 2002 an das Bundesamt, vom 24. September 2001 an das VG Bremen und vom 1. Dezember 2000 an das VG Gelsenkirchen).

Ausweislich der Angaben ihrer Eltern gegenüber den sie in der Bundesrepublik Deutschland behandelnden Ärzten wurde die Klägerin bereits vor ihrer Ausreise mit Medikamenten mit dem Wirkstoff Valproinsäure behandelt.

Eine stationäre Behandlung des Anfallsleidens ist in allen Krankenhäusern mit neurologischer Abteilung möglich (vgl. Auskünfte der Deutschen Botschaft Ankara vom 22. Januar 2002 an das Bundesamt, vom 24. September 2001 an das VG Bremen und vom 1. Dezember 2000 an das VG Gelsenkirchen).

In der zu diesem Verfahren eingeholten Auskunft vom 1. Dezember 2000 verweist der Vertrauensarzt der Deutschen Botschaft Ankara insbesondere auf das Universitätskrankenhaus in der Provinzhauptstadt Elazig in der Nähe des früheren Wohnortes der Klägerin. Dieses hat die Klägerin nach den Angaben ihrer EItern in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht auch bereits vor dem Verlassen der Türkei zumindest einmal aufgesucht. Darüber hinaus ist die Anfertigung eines Elektroenzephalogramms sowie die Durchführung von Laborkontrollen in den meisten Krankenhäusern möglich (vgl. Auskünfte der Deutschen Botschaft Ankara vom 22. Januar 2002 an das Bundesamt und vom 24. September 2001 an das VG Bremen).

Außerdem werden auch in der Türkei physiotherapeutische Programme angeboten und existieren Schulen für Geistigbehinderte (vgl. Auskunft der Deutschen Botschaft Ankara vom 28. November 2003 an das VG Kassel).

Die in der Türkei grundsätzlich mögliche Behandlung des Krankheitsbildes der Klägerin ist für diese auch tatsächlich erreichbar.

Auch Inhaber der yesil kart können Behandlungen in den staatlichen Krankenhäusern und Gesundheitszentren unentgeltlich in Anspruch nehmen. Allerdings ist die Übernahme der Kosten für Medikamente, die nicht im Rahmen eines stationären Krankenhausaufenthaltes verabreicht werden, durch die yesil kart nicht gewährleistet (vgl. Auskünfte der Deutschen Botschaft Ankara vom 2. September 2004, 22. Oktober 2003, 21. Juli 2003 und 12. Juli 2001 an das Bundesamt, vom 28. November 2003 an das VG Kassel und vom 24. Oktober 2003 an das VG Köln; Auswärtiges Amt, Lageberichte Türkei vom 19. Mai 2004, 12. August 2003 und 20. März 2002; Kaya, Gutachten vom 3. Mai 2004 an das VG Düsseldorf, vom 10. Februar 2001 an das VG Bremen). Soweit das Auswärtige Amt in einer älteren Auskunft (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 14. November 2000 an das VG Freiburg) mitgeteilt hat, bei chronischen Krankheiten würden durch die yesil kart auch die Kosten tür die dauerhaft notwendigen Arztbesuche und Medikamente übernommen, hat es daran in späteren Auskünften nicht festgehalten (Auswärtiges Amt, Lageberichte Türkei vom 19. Mai 2004 und 12. August 2003, Auskünfte vom 8. März 2004 und vom 22. Oktober 2003 an das Bundesamt; ferner ärztliche Stellungnahme des Vertrauensarztes der Deutschen Botschaft Anka ra vom 25. November 2003 an das VG Kassel).

Eine derartige umfassende Kostenübernahme kann auch dem Text des Gesetzes Nr. 3816 über die Übernahme der Behandlungskosten von mittellosen Staatsangehörigen durch Ausstellung der yesil kart vom 18. Juni 1992 nicht entnommen werden. Einzelne Auskünfte sind allerdings wohl dahin zu verstehen, dass chronisch Kranke bei einer ambulanten Behandlung in einem staatlichen Krankenhaus auch Medikamente über die yesil kart erlangen können (vgl. Botschaftsbericht vom 9. Mai 2001; Stellungnahme des Vertrauensarztes der Deutschen Botschaft in Ankara vom 7. April 2004 an das VG Düsseldorf (für Insulin).

Allerdings können auf Antrag Medikamentenkosten sowie auch sonstige Kosten der medizinischen Versorgung, die weder durch eine Sozialversicherung noch über die yesil kart übernommen werden, vom Förderfonds für Sozialhilfe und Solidarität (Sosyal Yardimlasma Vakfi) getragen werden, wenn der Antragsteller bedürftig ist (vgl. Deutsche Botschaft Ankara, Auskünfte vom 2. September 2004, 22. Oktober 2003, 21. Juli 2003 und 12. Juli 2001 an das Bundesamt, vom 28. November 2003 an das VG Kassel und vom 24. Oktober 2003 an das VG Köln; Auswärtiges Amt, Lageberichte Türkei vom 19. Mai 2004, 12. August 2003 und 20. März 2002, Auskunft vom 6. Februar 2002 an das VG Gelsenkirchen; Kaya, Gutachten vom 3. Mai 2004 an das VG Düsseldorf, vom 10. Februar 2001 an das VG Bremen).

Nach dieser Auskunftslage ist davon auszugehen, dass auch mittellose Personen in der Türkei grundsätzlich Zugang zu einer medizinischen Grundversorgung haben, deren Erlangung jedoch mit nicht unerheblichem bürokratischen Aufwand verbunden ist, und dass dabei Unregelmäßigkeiten nicht ausgeschlossen werden können. Dass es gerade im Fall der Klägerin bzw. ihrer Eltern zu derartigen Unregelmäßigkeiten kommen wird, ist - da hierfür keine konkreten Anhaltspunkte

vorliegen - nicht beachtlich wahrscheinlich. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, erwächst der Klägerin daraus keine beachtliche Gefahr einer wesentlichen Gesundheitsverschlechterung.

Nach den vorliegenden Arztberichten ist die Klägerin in erster Linie auf eine regelmäßige medikamentöse Behandlung angewiesen. Die Kosten dafür belaufen sich nach Auskunft der behandelnden Ärzte in der Bundesrepublik Deutschland auf 35,00 € monatlich; darüber hinaus wird zur Notfallmedikation Diazepam vorgehalten, wovon 10 mg in der Bundesrepublik Deutschland 21,18 € kosten.

Nach ausdrücklicher Zusage der Ausländerbehörde F. wird für den Fall der Rückkehr der Klägerin in die Türkei die Finanzierung der fortlaufenden Versorgung mit den erforderlichen Medikamenten jedenfalls für die Dauer von drei Monaten sichergestellt. Eine Unterbrechung der medikamentösen Behandlung der Klägerin im Zuge der Rückkehr in die Heimat und damit möglicherweise verbundener Orientierungsschwierigkeiten ist deshalb auszuschließen.