VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 09.03.2005 - 6 K 1965/01.A - asyl.net: M6498
https://www.asyl.net/rsdb/M6498
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Kurden, TKP/ML, TIKKO, Flugblätter, Festnahme, Glaubwürdigkeit, Separatismus, Folter, Menschenrechtswidrige Behandlung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Nach § 60 Abs. 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist.

Das Gericht ist zu der Erkenntnis gelangt, dass dem Kläger im Falle einer - freiwilligen oder zwangsweisen - Ausreise dem Schutzbereich dieser Norm unterfallende Rechtsgutsverletzungen drohen. Es ist nicht mit der erforderlichen hinreichenden Wahrscheinlichkeit auszuschließen, dass der Kläger für den Fall seiner Rückkehr in die Türkei asylerhebliche Verfolgung zu erwarten hat. Der Kläger hat die Türkei vorverfolgt verlassen. Im Zeitpunkt seiner Flucht aus der Türkei drohten ihm unmittelbar und mit beachtlicher Warhscheinlichkeit asylrelevante Verfolgungsmaßnahmen.

Der Kläger gehörte seit dem Jahre 1997 zum Sympathisantenkreis der (damaligen) TKP/ML. Den Kontakt zu anderen Sympathisanten pflegte er innerhalb eines örtlichen, siebenköpfigen Komitee, dem er seit Mitte 1997 auch angehörte. Aufgabe des Komitees war es, die Bevölkerung über die Ziele der Partei aufzuklären und zu informieren. Der Kläger hat in erster Linie Flugblätter und andere Publikationen verteilt. Anlässlich von Personenkontrollen wurde der Kläger im Sommer 1998 und im November 1999 für einen bzw. zwei Tage festgenommen, In der Haft wurde er unter Schlägen und Misshandlungen (auch) nach seinen Kontakten zur TKP/ML und zur TIKKO befragt. Nachdem im April 2000 zwei Mitglieder des Komitees bei einem Gefecht mit den türkischen Sicherheitskräften getötet wurden, tauchte der Kläger zunächst unter. Zur Ausreise entschloss der Kläger sich, als er von Bekannten und später auch seinen Eltern erfuhr, dass die Sicherheitskräfte in seinem Heimatdorf bei seinen Eltern nach ihm gesucht hatten.

Dies steht zur Überzeugung des Gerichts fest aufgrund des umfassenden und auch durchweg glaubhaften Vorbringens des Klägers.

Bei Zugrundelegung dieser Sachlage - konkreter und individualisierter Verdacht der Unterstützung der verbotenen Organisation TKP/ML - war die Flucht für den Kläger die einzige Lösung aus der für ihn ausweglosen Lage. Es ist nämlich zu berücksichtigen, dass solche türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit, die in den Verdacht jedenfalls der Nähe der Unterstützung der kulturellen und politischen Autonomie der Kurden - insbesondere in den Verdacht der Unterstützung der PKK - geraten sind, Gefahr laufen, im Rahmen der Strafrechtspflege oder von Polizeimaßnahmen betroffen zu werden. Nichts anderes gilt aber für den Personenkreis, der - wie der Kläger - in der Verdacht geraten ist, die von der Türkei als der PKK vergleichbar militant staatsfeindlich und terroristisch eingestuften TKP/ML zu unterstützen (Vgl. OVG NRW, Urteil vom 25. Januar 2000 - 8 A 1292/96.A -, S 106.). Nach der Auskunftslage ist es gesicherte Erkenntnis, dass aus politischen Gründen in Haft genommene Personen im türkischen Polizeigewahrsam in stärkerem Maße als etwa gewöhnliche Straftäter mit erheblichen körperlichen Misshandlungen, bis hin zur Folter, rechnen müssen (Vgl. OVG NRW, Urteil vom 30. April 1985 -18 A 10093/83 -; Rumpf, Stellungnahme vom 31. Oktober 1990; ferner OVG NRW, Beschluss vom 6. Juni 1994 - 25 A 3388/91.A -, InfAuslR 1995, 30.).

Die den politischen Häftlingen und somit auch dem Kläger im Zeitpunkt seiner Ausreise drohenden Misshandlungen im Polizeigewahrsam waren und sind dem türkischen Staat auch zurechenbar; ein energisches Vorgehen des türkischen Staates gegen die weit verbreitete Folterpraxis ist bislang nicht festzustellen.

Ist der Kläger nach alledem als vorverfolgt anzusehen, so kommt ihm der herabgestufte Prognosemaßstab zugute. Ihm ist Abschiebungsschutz zu gewähren, weil er bei der Rückkehr vor erneuter politischer Verfolgung nicht hinreichend sicher wären (Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Juli 1991 - 9 C 154.90-, DVBl 1991, 1089; Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90-, Buchholz 402.25, § 1 AsylVfG Nr. 147.).

Da seitens der türkischen Sicherheitskräfte hinsichtlich des Klägers bereits für den Zeitraum vor seiner Ausreise Verdachtsmomente vorlagen, ist damit zu rechnen, dass er schon bei seiner Einreise in die Türkei anlässlich von Verhören asylerhebliche Maßnahmen erdulden muss. Die türkischen Stellen könnten sich von einem derartigen Verhör nämlich versprechen, etwas über die Aktivitäten staatsfeindlicher Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland zu erfahren, weil bei einer bereits in der Türkei diesbezüglich verdächtigten Person die Annahme naheliegend ist, sie könnte auch im Exil entsprechende Verbindungen aufgenommen haben (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 30. Januar 1995 - 25 A 4705194.A.).