VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 22.02.2005 - A 3 K 12487/03 - asyl.net: M6505
https://www.asyl.net/rsdb/M6505
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Juden aus dem Irak; kein Schutz durch Koalitionsstreitkräfte; keine inländische Fluchtalternative, da Existenzminimum nicht gesichert.

 

Schlagwörter: Irak, Christen, Jesiden, Juden, Kurden, Interne Fluchtalternative, Existenzminimum, Nichtstaatliche Verfolgung, Schutzfähigkeit, Religionsfreiheit, Religiös motivierte Verfolgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für Juden aus dem Irak; kein Schutz durch Koalitionsstreitkräfte; keine inländische Fluchtalternative, da Existenzminimum nicht gesichert.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Kläger hat hinsichtlich des Irak Anspruch auf die Zuerkennung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sowie die Feststellung des Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 AuslG); der insoweit entgegenstehende Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 20.01.2003 ist deshalb aufzuheben.

Dabei ist zum einen zu berücksichtigen, dass in der Übergangsverfassung des Staates Irak nach dem Sturz des früheren Präsidenten Saddam Hussein Religionsfreiheit gewährt wird; die praktische Umsetzung dieses Grundrechts ist aber speziell für nichtmuslimische Bürger des Irak äußerst schwierig geworden. Es gilt in gesteigertem Maße, nachdem bei den Parlamentswahlen vom 30.01.2005 die schiitische Bevölkerungsgruppe nahezu die absolute Mehrheit der Parlamentssitze gewonnen hat. Hinsichtlich der Gefährdungslage von Christen und insbesondere Yeziden liegen dem Gericht mittlerweile zahlreiche Erkenntnisquellen vor, die die gesteigerte Gefährdungslage der Mitglieder dieser Religionsgruppen bestätigen (vgl. Europäisches Zentrum für kurdische Studien vom 02.11.2004 an das VG Regensburg; vom 03.11.2004 an das VG Köln; hinsichtlich der Lage der Christen im Irak: Stuttgarter Zeitung vom 22.01.2005: Die Freibriefe mancher Mullahs erlauben das Töten). In der überarbeiteten UNHCR-Position zum Schutzbedürfnis und zu Möglichkeiten der Rückkehr irakischer Flüchtlinge - Oktober 2004 - wird auf Seite 6 ausgeführt, dass alle bei der Erstellung dieses Berichts befragten Personen bestätigt haben, dass sich die Situation der Christen im Irak seit dem Sturz des vorherigen Regimes "dramatisch verschlechtert hat". Christen werden als Defacto-Unterstützer der Koalitionsmächte im Irak wahrgenommen; die Anschläge auf Kirchen in Bagdad und Mosul am 01.08.2004 sowie die steigende Zahl irakischer Christen, die in den vergangenen drei Monaten in das angrenzende Syrien geflüchtet sind, zeigen die Zuspitzung der Situation der Christen im Irak seit Sommer 2004. Die allgemeinkundigen Vorfälle (Anschläge, Plünderungen, Brandstiftungen etc.) zeigen aber auch, dass die Koalitionsmächte nicht in der Lage sind, diesen religiösen Minderheiten ausreichend Schutz zu gewähren.

In gesteigertem Maße gelten diese Vorbemerkungen für die Situation der Juden im Irak, die während des Regimes von Saddam Hussein im Hinblick auf ihre extreme Gefährdungslage überhaupt nicht in Erscheinung getreten waren. Die jüdische Minderheit lebt mittlerweile in der paradoxen Situation, dass ihr einerseits Religionsfreiheit rechtlich zugestanden wird, dass ihr aber andererseits, sofern sie nach außen hin in Erscheinung tritt, höchste Gefahr seitens der Islamisten droht. Bei diesen Feststellungen ist das Gericht in der schwierigen Lage, dass einschlägige Erkenntnismittel zur Situation der jüdischen Religionsminderheit im Irak nicht vorliegen. Auch eine Rückfrage des Gerichts beim UNHCR in Berlin (Tel.: 030-20220222) hat lediglich die Bestätigung ergeben, dass hierzu nichts Schriftliches verfügbar ist.

Angesichts der glaubwürdigen Angaben des Klägers bestehen aber keine Bedenken daran, dass jedenfalls dieser im Falle einer Rückkehr in den Irak, namentlich auch in die Heimatstadt Kirkuk, einer politischen Verfolgung i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt wäre. Die Frage, ob darüber hinaus die jüdische Minderheit im Irak oder in einzelnen Teilen des Irak einer Gruppenverfolgung ausgesetzt ist, kann dahingestellt bleiben. Der Kläger hat anschaulich geschildert, dass er einer jüdischen Familie entstammt und dass dieses Judentum auch in der Familie intern praktiziert worden ist.

Die Gefährdungslage des Klägers ergibt sich weiterhin aus der am 08.11.2002 stattgefundenen Auseinandersetzung des Klägers mit drei jungen Erwachsenen.

Für die Gefährdungssituation des Klägers ist dabei von besonderem Belang, dass er gegenüber einem der drei jungen Erwachsenen sich einmal dahingehend verraten hat, dass seine Familie jüdischen Glaubens ist. Allerdings hat er diesen "Fehler" umgehend korrigiert und nachdrücklich betont, dass die Familie "natürlich" muslimischen Glaubens sei. Es liegt auf der Hand, dass sich der Kläger angesichts des Themas "Selbstmordattentate in Israel" als Jude oder zumindest als jüdischer Sympathisant verraten hatte - mit der Folge, dass ihm auch heute noch im Falle einer Rückkehr in seine Heimatstadt, zumal angesichts der zunehmenden Islamisierung des Irak, eine Verfolgung i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG droht.

Eine inländische Fluchtalternative steht dem Kläger nicht zur Verfügung; es ist nicht erkennbar, wie er sein Existenzminimum im Irak sichern könnte. Der Vater des Klägers ist 1988 an einer Krankheit verstorben, - die Mutter des Klägers seit ca. zwei Jahren verschollen. Der Kläger hat drei Brüder, die alle im Ausland leben. Der Kläger hat zwar im Irak die Mittelschule im Jahr 2001 absolviert, sich aber anschließend allein der Vorbereitung auf den Beruf eines Musikers unterzogen, indem er in Kirkuk Klarinettenunterricht nahm. Bei dieser sozialen Situation des Klägers ist kein Grund dafür ersichtlich, dass er eigenständig, ohne sozialen Rückhalt, sein Existenzminimum im Irak sichern könnte.

Aus den oben genannten Gründen ist dem Kläger auch das Abschiebungshindernis des § 60 Abs. 7 AufenthG zuzuerkennen; aus den oben dargelegten Tatsachen ergibt sich, dass ihm im Irak eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben droht. Diese Gefahr ist auch nicht dergestalt, dass sie der Bevölkerung allgemein oder Bevölkerungsgruppen drohen würde. Vielmehr ist sie allein konkret - individueller Natur. Bezogen auf das Land Baden-Württemberg und die hier bestehende Erlasslage vertritt das Verwaltungsgericht Sigmaringen weiterhin die Auffassung, dass diese der Feststellung des Abschiebungshindernisses des § 60 Abs. 7 AufenthG nicht entgegensteht (vgl. Urteil vom 22.02.2005 - A 3 K 12489/03 -.