VG Neustadt a.d.W.

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Zitieren als:
VG Neustadt a.d.W., Urteil vom 07.03.2005 - 5 K 2326/04.NW - asyl.net: M6509
https://www.asyl.net/rsdb/M6509
Leitsatz:

Regierung Karzai übt in Afghanistan keine staatliche Herrschaftsmacht im asylrechtlichen Sinne aus; Hezb-e Wahdat ist keine staatsbeherrschende Organisation gem. § 60 Abs. 1 S. 4 c) AufenthG; kein Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG wegen allgemeiner Sicherheits- und Versorgungslage, da gleichwertiger Abschiebungsschutz durch Erlasslage in Rheinland-Pfalz besteht.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Tadschiken, Hezb-e Wahdat, Taliban, Staatsbeherrschende Organisation, Nichtstaatliche Verfolgung, Geschlechtsspezifische Verfolgung, Interne Fluchtalternative, Versorgungslage, Kabul, Allgemeine Gefahr, Abschiebungsstopp, Erlass, IMK-Beschluss
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 5; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Regierung Karzai übt in Afghanistan keine staatliche Herrschaftsmacht im asylrechtlichen Sinne aus; Hezb-e Wahdat ist keine staatsbeherrschende Organisation gem. § 60 Abs. 1 S. 4 c) AufenthG; kein Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG wegen allgemeiner Sicherheits- und Versorgungslage, da gleichwertiger Abschiebungsschutz durch Erlasslage in Rheinland-Pfalz besteht.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Den Klägern droht keine politische Verfolgung im Sinne des § 60 Abs.1 Satz 1 AufenthG.

Die Kläger sind zunächst nicht durch den Staat selbst von solcher politischer Verfolgung bedroht. Dabei kann hier dahinstehen, ob der Begriff des Staates im Sinne des § 60 Abs. 1 a) AufenthG gleichbedeutend ist mit dem der "staatlichen Macht" im Sinne der Rechtsprechung zu Art. 16 a GG. Wäre das der Fall, wäre nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Gerichts die Regierung Karzai nicht als "Staat" in diesem Sinne anzusehen, weil es unter den gegenwärtigen Verhältnissen an einer ausreichend stabilen Herrschaftsstruktur im Inneren Afghanistans fehlt, die es der Übergangsregierung Karzai erlauben würde, auch faktisch in einem wesentlichen Teil des Staates Herrschaft im Sinne einer staatlichen Gewalt auszuüben (dazu ausführlich die Urteile des Verwaltungsgerichts Neustadt vom 26. April 2004 - 5 K 1900/03 und vom 19. Juli 2004 - 5 K 1738/03. NW). An dieser Stelle bedarf dies jedoch keiner Entscheidung, weil die Kläger von der Regierung und den ihr unterstehenden Sicherheitskräften keine Verfolgung zu befürchten haben.

Als Anknüpfungstatsache für eine Verfolgungsfurcht kommt primär die Zusammenarbeit des Klägers zu 1) mit den Taleban in seinem Heimatort in Frage. Im tatsächlichen Machtbereich der Regierung Karzai, der sich im Wesentlichen auf die Stadt Kabul und deren Umgebung beschränkt, wird die Kollaboration des Klägers zu 1) schon nicht bekannt werden.

Ebenso wenig droht dem Kläger zu 1) und den übrigen Klägern Verfolgungsgefahr von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen (§ 60 Abs. 1 Satz 4 b) AufenthG). Hierfür käme angesichts seines Vortrags nur die Gruppierung Hezb-e Wahdat in Betracht, die ihm nach der Vertreibung der Taleban in seinem Heimatort und dessen näherer Umgebung möglicherweise durchaus gefährlich werden könnte, weil er dort als Ortsansässiger bekannt ist und deshalb den mehr oder weniger persönlichen Vergeltungsbedürfnissen der mit den Taleban verfeindeten und ihnen im Kampf um die Vorherrschaft über das Gebiet im Jahre 1998 unterlegenen Mudjaheddin (dazu z.B. Danesch, Gutachten an BayrVG Bayreuth vom 31.10.2002) ein Angriffsziel bieten könnte.

Diese "Partei" hat jedoch nur in einem beschränkten Teil Afghanistans Macht und Einfluss, nämlich vor allem in den Hauptsiedlungsgebieten der schiitischen Volksgruppe der Hazara. Das sind insbesondere die Provinz Bamian sowie die Region um Mazar-i-Sharif, wo sie die Macht mit Usbekenführer Dostum und dem tadschikischen Mudjaheddin-Kommandanten Ustad Atta teilen muss (Gutachten Danesch an BayrVG Bayreuth vom 31.10.2002). Nach dem jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 03.11.2004 (S. 13) gibt es derzeit außerdem im südlichen Hazarajat (West-Ghazni, Süd-Bamian und Nord-Uruzgan) innerhazaritische Kämpfe zwischen den beiden Flügeln der Hezb-e Wahdat, nämlich zwischen den Anhängern von Vizepräsident Karim Khalili und seinem langjährigen Rivalen Mohammad Akbari (allgemein zu Hezb-e Wahdat und ihren - offenbar häufig menschenrechtswidrigen - Aktivitäten zwischen 1992 und 1999: Bericht der Niederländischen Delegation an den Rat der Europäischen Union - CIREA - vom 26. April 2001).

Im Übrigen, also im weit überwiegenden Teil des Landes haben andere ethnisch-politische Kräfte Einfluss und Macht. Dabei kann - in Anlehnung an das Gutachten von Danesch an das Sächsische OVG vom 24.07.2004, aus dem die folgenden Informationen entnommen sind - grob zwischen paschtunisch besiedelten Gebieten und Provinzen unterschieden werden, in denen andere Ethnien und deren Führer dominieren. Im Wesentlichen paschtunische Gebiete sind die Provinz Nangarhar, die Provinzen Kandahar, Zabul, Helmand; Nimruz und Uzurgan. In der Provinz Ghazneh soll die "Hezb-e Islami" von Gulbuddin Hekmatiyar über starke Bastionen verfügen, ähnlich auch in der Provinz Laghman. Die Provinzen im Nordosten bis in den Norden sind mehrheitlich tadschikisch besiedelt. Großen Einfluss hat hier angeblich die "Schoray-e Nezar", der militärische Arm der Partei Jamiat-e Islami des ermordeten Tadschiken-Führers Ahmed Shah Massoud, der jetzt vor allem dem bisherigen Verteidigungsminister Mohammed Fahim untersteht. Im Westen in der Provinz Herat herrschte jedenfalls bis September 2004 Ismael Khan, ein Tadschike mit einer eigenen großen Armee. Im Norden, in den mehrheitlich von Usbeken und Turkmenen bewohnten Provinzen herrscht General Dostum. Die Machtbasis der Regierung Karzai liegt vor allem in Kabul und - mit Einschränkung - in den paschtunischen Gebieten im Süden und Osten des Landes.

Angesichts dessen ist die Hezb-e Wahdat nur eine von vielen Organisationen, die daher die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 4 b) AufenthG nicht erfüllt.

Schließlich liegen auch die Voraussetzungen von § 60 Abs. 1 Satz 4 c) AufenthG - Verfolgungsgefahr durch sog. andere nichtstaatliche Akteure - nicht vor. Zwar mögen als nichtstaatliche Akteure in diesem Sinne die Hezb-e Wahdat bzw. einzelne ihrer Kommandeure in Betracht kommen, die im Heimatgebiet der Kläger einflussreich sind und auch über bewaffnete Kräfte verfügen. Ohne dass auf die übrigen Voraussetzungen in § 60 Abs. 1 Satz 4 c) AufenthG einzugehen wäre, scheitert aber dessen Anwendbarkeit insoweit schon daran, dass es an der erforderlichen politischen Verfolgungsmotivation in Anknüpfung an die in § 60 Abs. 1 Satz [1] genannten Merkmale fehlt. Die Hezb-e Wahdat würde dem Kläger zu 1) nämlich nicht wegen seiner Rasse, Religion, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung nachstellen, sondern weil er sie an den Feind verraten bzw. mit diesem kollaboriert hat.

Wegen ihrer tadschikischen Volkszugehörigkeit droht den Klägern entgegen ihrer Auffassung eindeutig keine politische Verfolgung.

Schließlich hat auch die Klägerin zu 2) wegen Ihres Geschlechts keine politische Verfolgung zu befürchten. Das lässt sich jedenfalls für Kabul und wohl auch für andere große Städte feststellen. Auf die entsprechenden Ausführungen des Bundesamts, die mit den Erkenntnissen des Gerichts übereinstimmen, wird Bezug genommen, und zwar ausdrücklich auch, soweit sich das Bundesamt mit der Aussage von UNHCR (Stellungnahme zur Frage der Flüchtlingseigenschaft afghanischer Asylsuchender vom Juli 2003) auseinandersetzt. Die Klägerin zu 2) wäre in Kabul nicht auf sich allein gestellt, sondern würde mit ihrem Ehemann leben. Sie hat vor ihrer Ausreise offenbar ohne größere Probleme in einem kleineren Ort bei Mazar-i Sharif gelebt und sich dort den Sitten angepasst, deren Einhaltung gerade von den Taleban streng kontrolliert worden sind. Es wäre nicht lebensnah, anzunehmen, dass durch die jetzt knapp drei Jahre ihres Aufenthalts in Deutschland ihre Identität so vollständig von westlicher Lebensart und Denkweise geprägt worden sein könnte, dass es ihr nicht mehr zumutbar wäre, sich bei einer etwaigen Rückkehr nach Afghanistan zumindest äußerlich an den Sittenkodex und die gegenüber der Talebanzeit gemäßigte Kleiderordnung zu halten. Sie hat dies so auch nicht behauptet.

Auch Abschiebungshindernisse, die nicht auf politischer Verfolgung basieren, sind bei den Klägern nicht festzustellen. Zunächst bestehen für eine Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG (unmenschliche Behandlung), soweit sie vom Staat oder einer quasistaatlichen Macht ausgehen muss, keine Anhaltspunkte. § 60 Abs. 5 AufenthG wäre auch nicht einschlägig, wenn man annähme, dass nach neuer Rechtslage die Gefahr von Folter oder unmenschlicher Behandlung auch von nichtstaatlichen Akteuren im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 c) AufenthG verursacht werden könnte (so UNHCR in Asylmagazin 1-2/2005, S. 11,14; vgl. hingegen die amtliche Begründung zu § 60 AufenthG: "Die Absätze 2 bis 7 entsprechen inhaltlich § 53 AuslG"). Da bei der Prüfung dieses Abschiebungshindernisses einerseits eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für solche Maßnahmen bestehen und andererseits die Gefahr landesweit drohen muss, erfüllt auch eine etwaige Bedrohung seitens der örtlichen Führer von Hezb-e Wahdat in der Heimatregion der Kläger diese Voraussetzungen nicht.

Schließlich greift auch § 60 Abs. 7 AufenthG zugunsten der Kläger nicht ein. Wie vorstehend schon mehrfach dargelegt, droht ihnen aus individuellen Gründen, insbesondere wegen der Zusammenarbeit des Klägers zu 1) mit den Taleban, allenfalls in ihrer Herkunftsregion eine konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit, wenn Hezb-e Wahdat tatsächlich die Zusammenarbeit des Klägers zu 1) mit den Taleban "bestrafen" will. Ob dort dafür eine beachtliche Wahrscheinlichkeit besteht, kann offen bleiben. Jedenfalls besteht eine solche Gefahr nicht landesweit, sondern die Kläger wären im größten Teil des Landes, wo jeweils andere Gruppierungen vorherrschen, vor Maßnahmen von Hezb-e Wahdat sicher.

Was die allgemeine Sicherheits- und Versorgungslage und die daraus eventuell resultierende Gefährdung angeht, so ist nicht auf den früheren Wohnort abzustellen, sondern die Familie kann auch insoweit auf die Stadt Kabul verwiesen werden, in der die Sicherheits- und Versorgungslage für Rückkehrer nach Einschätzung der damit befassten Organisationen - auch des UNHCR - noch relativ gut ist. Bei den auch dort zu erwartenden Schwierigkeiten und Gefahren handelt es sich um Gefahren, die den Klägern als Teil einer ganzen Bevölkerungsgruppe und nicht aus individuellen Gründen drohen würden. Solche allgemeinen Gefahren sind aber nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG grundsätzlich nur bei Entscheidungen nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen, d.h. auf politischer Ebene durch eine entsprechende generelle Entscheidung der obersten Landesbehörden - hier des Innenministeriums - in Form eines administrativen Abschiebestopps oder eines Erlasses mit ähnlichem Inhalt.

Nach Auffassung des Gerichts besteht in Rheinland-Pfalz zur Zeit ein einer positiven Entscheidung nach § 54 AuslG/§ 60 a AufenthG entsprechender allgemeiner Abschiebungsschutz für afghanische Staatsangehörige.