VGH Hessen

Merkliste
Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 10.02.2005 - 8 UE 280/02.A - asyl.net: M6520
https://www.asyl.net/rsdb/M6520
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Familienasyl, Widerruf, Asylanerkennung, Beiladung, Stammberechtigter, Ermessen, Übergangsregelung, Anwendungszeitpunkt, Wegfall-der-Umstände-Klausel, Genfer Flüchtlingskonvention, Kommunisten, Wehrdienstentziehung, Desertion, Kriegsdienstverweigerung, Todesstrafe, Gebietsgewalt, Kabul, Warlords, ISAF
Normen: AsylVfG § 26 Abs. 2; AsylVfG § 73 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 1; VwGO § 65 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 2a; GFK Art. 1 C Nr. 5
Auszüge:

Das Verwaltungsgericht hat die auf § 26 Abs. 2 AsylVfG gestützte Asylgewährung an den Beigeladenen zu 1. zu Unrecht als rechtmäßig angesehen; nach dieser Vorschrift werden die bei Antragstellung minderjährigen ledigen Kinder eines Asylberechtigten nach den dort aufgeführten Voraussetzungen als Asylberechtigte anerkannt.

Er hat zwar mit Schreiben des Beigeladenen zu 2. vom 31. Mai 1999 einen wirksamen und gemäß § 26 Abs. 2 Satz 2 AsylVfG in der damaligen und heutigen Fassung innerhalb eines Jahres nach seiner Geburt in Frankfurt am Main rechtzeitigen Antrag gestellt und war im Zeitpunkt der Asylantragstellung auch minderjährig und ledig.

Die durch den bestandskräftigen Bescheid des Bundesamtes vom 28. Oktober 1983 erfolgte Asylanerkennung des Beigeladenen zu 2. ist aber entgegen § 26 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG wegen der zwischenzeitlichen Veränderungen in Afghanistan gemäß § 73 Abs. 1 AsylVfG zu widerrufen.

Die Frage des Vorliegens von Widerrufsgründen ist nach dem Wortlaut des § 26 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG uneingeschränkt schon im Rahmen des Verfahrens auf Gewährung von Familienasyl zu prüfen und nicht einem gesondert gegen den Stammberechtigten gerichteten Widerrufsverfahren vorzubehalten.

Wenn - wie hier - der Asylanerkennungsbescheid lediglich in Vollziehung einer rechtskräftigen Verurteilung des Bundesamtes ergangen ist, ist für die Beantwortung dieser Frage auf den Zeitpunkt des Ergehens des rechtskräftig gewordenen Verpflichtungsurteils und darauf abzustellen, ob sich die für die gerichtliche Beurteilung der Verfolgungslage maßgeblichen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse nach Erlass des Urteils erheblich verändert haben, wobei angesichts seiner materiellen Rechtskraft die damalige Rechtsfindung nicht in Frage zu stellen, sondern der Prüfung zu Grunde zu legen ist (vgl. OVG NW, Urteil vom 15. Juli 1991 - 14 A 10131/88 - juris; Hess. VGH, Urteil vom 2. April 1993 a.a.O.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 19. September 2002 - A 14 S 457/02 - juris; BVerwG, Urteile vom 19. September 2000 - 9 C 12/00 - BVerwGE 112 S. 80 ff. = InfAuslR 2001 S. 53 ff. = NVwZ 2001 S. 335 ff. = juris und vom 8. Mai 2003 - 1 C 15/02 - BVerwGE 118 S. 174 ff. = NVwZ 2004 S. 113 ff. = juris). Für das Vorliegen einer nachträglichen Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse, die das Bundesamt zum Widerruf einer bestands- oder rechtskräftigen Asylanerkennung berechtigt und verpflichtet, ist ein strenger Maßstab anzulegen und eine Beweislast des Bundesamtes anzunehmen (vgl. Pfaff, ZAR 2003 S. 225 [228]). Eine solche Veränderung muss nicht nur auf Grund eindeutiger Anhaltspunkte unzweifelhaft eingetreten sein, sie kann jedenfalls für einen vor erlittener oder drohender politischer Verfolgung geflohenen und deshalb als asylberechtigt anerkannten Ausländer auch nur dann im obigen Sinne als erheblich angesehen werden, wenn sich die politisch-gesellschaftliche Lage in seinem Heimatland so wesentlich, grundlegend und dauerhaft verbessert hat, dass bei seiner Rückkehr eine Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist. Diese Anforderung folgt aus der humanitären Zielsetzung des Asylgrundrechts, das zwar keinen unveränderbaren Status verleiht und in seinem Bestand von der Fortdauer der Verfolgungsgefahr abhängt, andererseits aber einem Asylsuchenden, der schon einmal von politischer Verfolgung betroffen war, nicht zumutet, erneut der Zugriffsmöglichkeit des Verfolgerstaates und dem Risiko erneuter Verfolgung ausgesetzt zu werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 - 1 BvR 147, 181 und 182/80 - BVerfGE 54 S. 341 ff. = NJW 1980 S. 2641 ff. = juris; BVerwG, Urteil vom 24. November 1992 - 9 C 3/92 - EZAR 214 Nr. 3 = juris; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 16. März 2004 - A 6 S 219/04 - AuAS 2004 S. 142 ff. = NVwZ-RR 2004 S. 790 ff. = juris).

Dies entspricht auch dem in der "Beendigungsklausel" des Art. 1 C Nr. 5 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention) vom 28. Juli 1951 (BGBl. II 1953 S. 559, Bekanntmachung vom 28. April 1954, BGBl. II S. 619) - GK - zum Ausdruck gekommenen Zumutbarkeitsgedanken (vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 a.a.O.).

Nach Erlass des zur Asylanerkennung des Beigeladenen zu 2. verpflichtenden Urteils des Verwaltungsgerichts Kassel vom 11. August 1983 haben sich die nach dieser Rechtsfindung für seine Verfolgungsgefährdung maßgeblichen tatsächlichen Verhältnisse in Afghanistan nach der Entmachtung des letzten kommunistischen Regimes unter Präsident Nadschibullah im April 1992 so grundlegend und dauerhaft verändert, dass solche asylerheblichen Verfolgungsmaßnahmen gegen den Beigeladenen auch bei Anlegung eines strengen Maßstabs mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden können.

Das Verwaltungsgericht hat eine dem Beigeladenen drohende politische Verfolgung angenommen, weil er bei seiner Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit durch die kommunistischen Machthaber zum Wehrdienst herangezogen oder wegen Kriegsdienstverweigerung bestraft worden wäre. Darin hat es eine asylerhebliche Verfolgung gesehen, weil der Kriegsdienst nach den damaligen afghanischen Verhältnissen eine sowjetisch-sozialistische Umerziehung beinhaltet und der Zerschlagung des Widerstandes des eigenen Volkes gegen das von einer fremden Macht und deren Invasionstruppen gestützte totalitäre kommunistische Regime gedient habe und weil Verweigerer auch mit der Todesstrafe hätten rechnen müssen. Zudem habe sich der Beigeladene durch die Teilnahme an Demonstrationen gegen die russische Besetzung in den Augen der damaligen afghanischen Behörden staatsfeindlich betätigt.

Eine derartige, an seine Ablehnung des kommunistischen Regimes anknüpfende politische Verfolgung droht dem Beigeladenen auf Grund der veränderten Verhältnisse in Afghanistan nicht mehr.

Allerdings bestehen dort - entgegen der Auffassung des Bundesbeauftragten - gegenwärtig wieder staatliche bzw. quasi-staatliche Herrschaftsstrukturen, die grundsätzlich eine politische Verfolgung ermöglichen.

Unter Zugrundelegung der vom 13. Senat des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs in seinem Grundsatzurteil vom 8. Juli 1996 entwickelten und im obigen Sinne höchstrichterlich weitgehend bestätigten und präzisierten Maßstäbe (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. August 2000 - 2 BvR 260 und 1353/98 NVwZ 2000 S. 1165 ff. = InfAuslR 2000 S. 521 ff. = juris; BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2001 - 9 C 20/00 - BVerwGE 114 S. 16 ff. = NVwZ 2001 S. 815 ff. = InfAuslR 2001 S. 353 ff. = juris) gelangt der erkennende Senat nach den derzeit verfügbaren Erkenntnismitteln zu der Überzeugung, dass die nach dem Sturz des kommunistischen Regimes in Afghanistan entstandenen Machtverhältnisse nach der Entmachtung der Taliban Ende 2001 in weiten Bereichen so wiederhergestellt worden sind, wie sie vor und bei deren Eintritt in den Bürgerkrieg bestanden und heute mehr noch als damals - weil jedenfalls eine offene Bürgerkriegssituation nicht mehr besteht - trotz eines fehlenden landesweiten Gewaltmonopols der Übergangsregierung Karsai und trotz der nach wie vor weitgehend unzureichenden Sicherheits- und Versorgungslage die Annahme verfolgungsmächtiger zentralstaatlicher bzw. regionaler quasi-staatlicher Herrschaftsstrukturen rechtfertigen.

Diese Übergangsregierung bzw. ihr Präsident verfügt auch über Herrschaftsstrukturen, die zumindest im Großraum Kabul wirksam sind. Dass die Regierungsgewalt Präsident Karsais hauptsächlich auf dem Schutz dieser internationalen Truppen beruht, steht der Annahme staatlicher Machtstrukturen nicht entgegen (so aber zunächst Deutsches Orient-Institut an Sächs. OVG vom 23. September 2004 S.1, vgl. aber auch S. 4 f.). Es kommt nämlich weder auf die Legitimität der Machtausübung noch darauf an, in welchen organisatorischen und rechtlichen Formen, Einrichtungen oder Institutionen die faktische Herrschaftsmacht ausgeübt wird; maßgeblich ist allein, ob das Zusammenleben in der konkreten Gemeinschaft mit einer gewissen Stetigkeit und Dauerhaftigkeit durch Befehl und Zwang geordnet wird.

Die Gebietsgewalt der Regierung Karsai ist nach dem derzeit verfügbaren Erkenntnisstand aber auf den Großraum Kabul beschränkt und erstreckt sich nicht auf das übrige Staatsgebiet Afghanistans.

In den verschiedenen Landesteilen haben sich nach der Entmachtung der Taliban vielmehr wieder ähnliche quasi-staatliche und gegenüber der Zentralregierung autonome Herrschaftsbereiche herausgebildet, wie sie bereits vor deren Eingreifen in den Bürgerkrieg bestanden hatten und oben beschrieben worden sind (vgl. etwa Dr. Danesch an VG Wiesbaden vom 29. Januar 2003 S. 6 ff. und vom 21. Mai 2003 an VG Braunschweig; Deutsches Orient-Institut an Sächs. OVG vom 23. September 2004 S. 1 f., 8, 10.f.).

Der Beigeladene zu 2. wäre im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan aber vor einer von diesen derzeitigen Machthabern ausgehenden oder von ihnen nicht verhinderten Verfolgung, die an seine frühere Verweigerung des Kriegsdienstes unter dem kommunistischen Regime oder an seine Teilnahme an Demonstrationen gegen die russische Besetzung oder an andere asylerhebliche Merkmale anknüpfen könnte, hinreichend sicher.

Zwar gibt es innerhalb und zwischen der Zentralregierung und den jeweiligen regionalen Herrschaftsstrukturen Rivalitäten, verdeckte und offene Feindschaften bis hin zu terroristischen Anschlägen und militärischen Auseinandersetzungen. Diese überwiegend fundamentalistisch-islamistischen Machthaber verbindet aber die langjährige Feindschaft gegenüber den verbittert bekämpften kommunistischen Regierungen Afghanistans und deren sowjetischen Verbündeten, so dass für keine dieser Gruppierungen ein Anlass bestehen könnte, gegen den Beigeladenen wegen seiner Kriegsdienstverweigerung oder wegen seiner Teilnahme an Demonstrationen gegen die russische Besetzung Verfolgungshandlungen vorzunehmen oder gezielt zu fördern oder zuzulassen; das gilt ebenso für seine tadschikische Volks- und seine schiitische Religionszugehörigkeit.