VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 24.03.2005 - 2 E 971/04.A (2) - asyl.net: M6530
https://www.asyl.net/rsdb/M6530
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Sohn eines hohen Baath-Funktionärs wegen Gefahr von Racheakten durch nichtstaatliche Akteure im Irak.

 

Schlagwörter: Irak, Baath, Nichtstaatliche Verfolgung, Schutzfähigkeit, Kurden, Vorverfolgung, Herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für Sohn eines hohen Baath-Funktionärs wegen Gefahr von Racheakten durch nichtstaatliche Akteure im Irak.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der angegriffene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18.11.2003 war antragsgemäß entsprechend aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, in der Person des Klägers die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG festzustellen (§ 113 Abs. 1 und 5 Satz 1 VwGO).

Vorliegend geht das Gericht davon aus, dass der Kläger sein Heimatland wegen ihm drohender politischer Verfolgungsmaßnahmen verlassen hat. Dabei kann offen bleiben, ob er sein Heimatland eher wegen des geschilderten Zerwürfnisses mit seinem Vater oder hauptsächlich wegen der inneren Ablehnung des Baath-Regimes verlassen hat. Da es das Gericht als glaubhaft ansieht, dass sein Vater ein hoher Baath-Funktionär in dem mehrheitlich von Kurden bewohnten nördlichen Irak war, fließen innerhalb des Klägers offenbar persönliche Haltungen und politische Beweggründe zusammen. Zu Gunsten des Klägers nimmt das Gericht daher an, dass eine zumindest latente Verfolgungsgefahr bestand und ihn zum Verlassen des Landes genötigt hat. Allerdings fand die Ausreise aus dem Irak noch zu einem Zeitpunkt statt, in dem das Regime von Saddam Hussein und die unbeschränkte Herrschaft der Baath-Partei und ihrer Sicherheitsorgane unangefochten war. Diese Sachlage hat sich aber nunmehr verändert. Durch die militärische Intervention der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs vom 20.03.2003 ist die Herrschaft des Baath-Systems im Irak zusammengebrochen und meisten prominenten Protagonisten dieser Bewegung, einschließlich Saddam Hussein, befinden sich in Haft und müssen sich in naher Zukunft vor einem irakischen Gericht wegen ihrer Handlungen verantworten. Durch die landesweite Besetzung des Irak durch die Koalitionstruppen ist die Herrschaft der Baathisten beseitigt. Der Irak durchläuft mittlerweile einen Konsolidierungsprozess, dessen Ende zwar offen, Fortschritte jedoch deutlich erkennbar sind. Durch die landesweite Wahl vom 30.01.2005 ist ein Übergangsparlament zur Ausarbeitung einer Verfassung bestimmt worden und ferner (konkrete weitere) Maßnahmen zur Übertragung der zivilen Macht auf irakische Institutionen in Angriff genommen worden. Staatliche Verfolgung i.S.v. § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstaben a.) und b.) AufenthG kann demnach der Kläger nicht mehr geltend machen.

Gleichwohl kann der Kläger sich auf eine Verfolgungsgefahr gem. § 60 Abs. 1 Satz 4 c.) AufenthG berufen, da nach der Würdigung der dem Gericht vorliegenden Berichten sachbefasster Stellen die im Aufbau befindlichen und mit der Sicherheit betrauten irakischen Institutionen und die westlichen Besatzungsmächte des Iraks nicht in der Lage sind, den Kläger bei einer Rückkehr in den Irak vor Rechtsgüterverletzungen i.S.v. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG effektiv zu schützen. Dies gilt nach dem Kenntnisstand des Gerichts landesweit, da in der Person des Klägers die beiden erheblich gefahrenerhöhenden Merkmale der kurdischen Volkszugehörigkeit und der Abstammung aus einer Familie, in der der Vater im Ergebnis mit Sicherheitsbelangen des Baath-Regimes betraut war, zusammenkommen. Diese beiden Gefahrenmomente begründen eine Verfolgungsgefährdung des Klägers, die nach dem herabgestuften Verfolgungsmaßstab zu würdigen sind.

Auf den herabgestuften Verfolgungsmaßstab kann sich der Kläger vorliegend berufen, weil die Gründe für das Verlassen des Heimatlandes durch die Beseitigung des Regimes von Saddam Hussein nicht in jedem Belang entfallen sind. Insoweit besteht ein innerer Sachzusammenhang zwischen der Flucht und der drohenden Gefahr durch nichtstaatliche Akteure i.S.v. § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c.) AufenthG fort. Es muss also mehr als überwiegend wahrscheinlich sein, dass dem Kläger keine erneute Verfolgung droht. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, muss einerseits eine Wiederholung der Verfolgung nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, andererseits genügt es jedoch für die Anwendung des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabs, wenn Anhaltspunkte vorliegen, welche die Möglichkeit abermals einsetzender Verfolgung als nicht ganz entfernt erscheinen lassen (BVerwG, Urteil vom 25.09.1984 - 9 C 17.84 -, BVerwGE 70, 169 (171)). Lassen sich jedenfalls ernsthafte Bedenken an der Sicherheit des Asylsuchenden nicht ausräumen, spricht dies für die Wahrscheinlichkeit der Verfolgungsgefahr in wiederholender Form und führt damit zum herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab (BVerwG, Urteil vom 27.04.1982 - 9 C 308.81, BVerwGE 65, 250 (251)).

Für diese Beurteilung ausschlaggebend sind die in das Verfahren eingeführten und jedenfalls teilweise in der mündlichen Verhandlung erörterten Stellungnahmen von Uwe Brocks, zur "Verfolgungssituation ehemaliger Anhänger Saddam Husseins" vom 18.10.2004 und die Auskunft von Eva Savelsberg "Situation ehemaliger Mitglieder der Baath-Partei (Racheakte, Blutrache, Arbeitsplatz)" vom 07.12.2004. Aus diesen Berichten geht hervor, dass es im Jahre 2003 in erheblicher Weise und auch fortfolgend im Jahre 2004 zu einer großen Anzahl von Mordtaten gegen ehemalige Anhänger des Regimes gekommen ist, wobei die Mordopfer örtlich bekannte Baath-Funktionäre und in manchen Fällen auch ihre zumeist männlichen Familienmitglieder waren. Nach diesen Berichten kann nicht festgestellt werden, das nur besonders exponierte Funktionäre Opfer dieser Anschläge waren. Insbesondere in dem Bericht von Eva Savelsberg wird ausgeführt, dass derzeit nicht festgestellt werden kann, ob diese Verbrechen abnehmen oder sie nur aus dem Fokus der Berichterstattung wegen erheblich schwererer Attentate gerückt sind. Auch der weiter herangezogene Bericht von Uwe Brocks berichtet von Verfolgungshandlungen gegen Baath-Funktionäre, stuft deren Gefährdung allerdings erheblich zurückhaltender ein und lässt sie vornehmlich für die höheren Funktionsträger gelten. Insgesamt muss festgestellt werden, dass auf Grund der unübersichtlichen, widersprüchlichen und insgesamt angesichts der dynamischen Verhältnisse im Irak doch recht dürftigen Nachrichtenlage zur Gefährdung eines bestimmten Teils der Bevölkerung eine fundierte Prognose der Verfolgungsgefährdung nur schwer gewonnen werden kann. Das Gericht hat aber von einer weiteren Auskunftseinholung abgesehen, weil nicht ersichtlich ist, welche Institution hierzu sachkundig Auskunft gegen kann, denn insbesondere das Auswärtige Amt hat erst kürzlich mitgeteilt, dass auf Grund der eingeschränkten Bewegungsfreiheit außerhalb des bewachten Botschaftsgebietes Auskünfte derzeit nicht erteilt werden können.

Bei dieser Sachlage hält das Gericht ausreichend Anhaltspunkte für gegeben, dass der Kläger bei einer Rückkehr in den Irak abermals einer Verfolgungsgefährdung ausgesetzt wird, die landesweit ihm aus den dargelegten persönlichen Merkmalen droht. Der Kläger kann diese Verfolgungsgefahr auch nicht durch ein bestimmtes Verhalten oder durch Wohnsitznahme in einem Landesteil abseits des ehemaligen Wirkungskreises seines Vaters abwenden, weil er von Akteuren, die derzeit den Widerstand und auch die Abrechung mit der alten Funktionärskaste betreiben, überall identifizierbar sein dürfte. Die derzeitige Verfassung des irakischen Staates und die hohe Beanspruchung der Besatzungstruppen mit der Aufrechterhaltung der wichtigsten staatlichen Funktionssysteme dürfte auch erwiesenermaßen nicht in der Lage sein, dem Kläger Schutz vor Verfolgung zu bieten.