Keine nichtstaatliche Gruppenverfolgung im Irak wegen turkmenischer Volkszugehörigkeit.
Keine nichtstaatliche Gruppenverfolgung im Irak wegen turkmenischer Volkszugehörigkeit.
(Leitsatz der Redaktion)
Die Kläger können sich auch nicht auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG berufen.
Für die Beurteilung, ob sich ein Schutzsuchender auf die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG berufen kann, gelten unterschiedliche Maßstäbe: Hat er seinen Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen und war ihm auch ein Ausweichen innerhalb seines Heimatstaates unzumutbar (Vorverfolgung), so ist Asyl bzw. Abschiebungsschutz zu gewähren, wenn der Asylsuchende im Zeitpunkt der Entscheidung vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend sicher ist (herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab). Die hinreichende Sicherheit vor Verfolgung ist dann nicht gegeben, wenn über die bloße Möglichkeit hinaus, Opfer eines erneuten Übergriffs zu werden, objektive Anhaltspunkte eine Wiederholung der ursprünglichen oder aber das erhöhte Risiko einer gleichartigen Verfolgung als nicht ganz entfernt und damit als "reale" Möglichkeit erscheinen lassen. (Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -, BVerfGE 80, 315, 344 f.; BVerwG, Urteil vom 15. Mai 1990 - BVerwG 9 C 17.89 -, BVerwGE 85,139, 140 f.)
Hat der Asylsuchende seinen Heimatstaat hingegen unverfolgt verlassen, so kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm aufgrund von beachtlichen Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung auf der Grundlage des nicht herabgestuften Maßstabes der beachtlichen Wahrscheinlichkeit droht.
Das Aufenthaltsgesetz weicht in § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c) AufenthG am Ende von diesen Grundsätzen allerdings insofern ab, als es bei der Prüfung ob Verfolgung von nichtstaatlichen Akteuren ausgeht, das Ausschlusskriterium der innerstaatlichen Fluchtalternative einführt. Unter Berücksichtigung dessen, dass die Frage der Vorverfolgung nur Bedeutung für den Maßstab hat, den das Gericht seiner Prognoseentscheidung zu Grunde zu legen hat, ist die Unterscheidung zwischen Verfolgung durch staatliche und quasistaatliche Akteure einerseits und nichtstaatliche Akteure andererseits mithin so auszulegen, dass im Falle der staatlichen oder quasistaatlichen Vorverfolgung regelmäßig - wie oben bereits dargelegt - der herabgesetzte Prognosemaßstab zur Anwendung kommen soll, während dies bei Verfolgung durch Private nur dann geschehen soll, wenn festgestellt worden ist, dass dem Abschiebungsschutzsuchenden zum Zeitpunkt seiner Ausreise keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stand. ...
Dies folgt betreffend § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. a) und b) AufenthG bereits daraus, dass das bisher herrschende Baath-Regime in der zweiten Aprilwoche 2003 zusammengebrochen ist und keine staatliche Macht im Irak mehr ausübt (vgl. Auswärtiges Amt, ad-hoc-Berichte vom 7. August und vom 6. November 2003), so dass sich jedenfalls im jetzigen Zeitpunkt die hinreichende Gefahr einer politischen Verfolgung im Irak durch dieses Regime nicht (mehr) feststellen lässt.
Letztlich ist hingegen nicht entscheidungsrelevant, wer im Irak im asylrechtlichen Sinne effektiv und stabilisiert die Herrschaftsmacht ausübt. Sind dies noch die Besatzungsmächte, gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass den Klägern durch sie Verfolgung droht. Ist als Herrschaftsmacht die noch im Amt befindliche Übergangsregierung anzusehen, sind Verfolgungsmaßnahmen durch sie genauso wenig ersichtlich.
Die Kläger können sich auch nicht mit Erfolg auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c) AufenthG berufen, weil sie nicht wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe gefährdet sind. Eine derartige Gefährdung kann wegen ihrer turkmenischen Volkszugehörigkeit nicht festgestellt werden. In einem Siedlungsbogen zwischen Tel Afar im Westen bis Kirkuk im Osten leben ca. 500.000 bis 750.000 Turkmenen (vgl.: Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2. November 2004 (Stand: Oktober 2004)), die insbesondere sowohl in der KDP- wie auch in der PUK-Region akzeptiert werden und insbesondere in der Provinz Arbil über eigene Strukturen wie Schulen und andere Einrichtungen verfügen. Im gerade gewählten irakischen Parlament sind die Turkmenen mit drei Abgeordneten vertreten. Angriffe auf Leib und Leben von turkmenischen Volkszugehörigen wegen ihrer Volkszugehörigkeit sind aus der Geburts- und Heimatstadt der Kläger Kirkuk jedenfalls nicht bekannt geworden. Unabhängig davon hätten die Kläger jedenfalls in der Provinz Arbil eine sichere Fluchtalternative und durch Landsleute auch die notwendige Unterstützung.
Die Kläger haben ebenso wenig einen Anspruch auf die Feststellung der Beklagten, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG vorliegen.
Zwar ist die allgemeine Kriminalität im Irak seit dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein stark angestiegen und ereignen sich nahezu täglich Terrorakte mit Toten und Verletzten. Es kann jedoch nicht außer Betracht bleiben, dass sich diese Anschläge in erster Linie gegen Soldaten der Besatzungsstreitkräfte und gegen Angehörige anderer ausländischer Staaten oder Organisationen richten sowie gegen Iraker, die mit diesen Stellen zusammenarbeiten. Für andere Bevölkerungsgruppen kann vor diesem Hintergrund von einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben nicht ausgegangen werden. Im Übrigen ist von der problematischen Sicherheitslage ebenso wie von der unzureichenden Versorgungslage und der mangelhaften medizinischen Versorgung (vgl. zu alledem Auswärtiges Amt, ad-hoc-Berichte vom 7, August und vom 6. November 2003; UNHCR, Stellungnahme zur Rückkehrgefährdung irakischer Schutzsuchender vom November 2003; Deutsches Orient-Institut, Stellungnahme an das OVG Schleswig-Holstein vom 1. Oktober 2003) die Bevölkerung des Irak in ihrer Gesamtheit betroffen, so dass die daraus erwachsenden Gefahren nur bei einer Entscheidung der obersten Landesbehörde nach § 60 Abs. 11 AufenthG berücksichtigt werden könnten. Aufgrund einer verfassungsgemäßen Interpretation fielen sie allenfalls dann unter § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, wenn eine derart extreme Gefahrenlage vorläge, dass der Ausländer bei einer Rückkehr gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen überantwortet wäre (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 - BVerwG 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, s. 199).