VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 11.05.2005 - 1 A 388/01 - asyl.net: M6581
https://www.asyl.net/rsdb/M6581
Leitsatz:

§ 28 Abs. 2 AsylVfG ist eng auszulegen.

 

Schlagwörter: Vietnam, Subjektive Nachfluchtgründe, Objektive Nachfluchtgründe, Nachfluchtgründe, Folgeantrag, Exilpolitische Betätigung, Nachschieben von Gründen, Frist, Dauersachverhalte, Anerkennungsrichtlinie, Verschulden, Verfolgungsbegriff, begründete Furcht, Oppositionelle, Menschenrechtsverletzungen, religiös motivierte Verfolgung, Religionsfreiheit, Internet, Buddhisten, Administrativhaft, Rechtsänderung, Zuwanderungsgesetz, Antragstellung als Asylgrund
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 28 Abs. 2; RL 2004/83/EG Art. 5 Abs. 3; RL 2004/83/EG Art. 4; RL 2004/83/EG Art. 10; GFK Art. 33 Abs. 1
Auszüge:

§ 28 Abs. 2 AsylVfG ist eng auszulegen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist insoweit begründet, als es dem Kläger gemäß seinem Antrag (nur) noch um die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 1 AufenthG geht.

2. Die Anerkennung als Flüchtling setzt in Anlehnung an Art. 33 Abs. 1 der Genfer Konvention iVm § 60 Abs. 1 AufenthG voraus, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in seine Heimat bei prognostischer Einschätzung eine asylerhebliche Beeinträchtigung oder Schädigung droht. Denn gem. § 60 Abs. 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder auch nur seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Auch eine Bedrohung seiner Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 19 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta) führt zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG (vgl. Nr. 10 der Gründe Richtlinie 2004/83/EG v. 29.4.2004; BVerwGE 89, 296; Renner, Ausländerrecht, 7. Auflage, § 51 AuslG, Rdn. 4 m.w.N.). Die Verfolgung kann vom Staat ausgehen, aber auch von anderen Akteuren (§ 60 AufenthG).

Soweit § 60 AufenthG voraussetzt, dass der Ausländer im Herkunftsland "bedroht" ist, lässt sie erkennen, dass eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dieser Rechtsgutsverletzung bestehen muss und die bloße, selbst durch Präzedenzfälle bestätigte Möglichkeit allein noch nicht ausreicht. Andererseits reicht im Rahmen der erforderlichen Prognose eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für den Eintritt künftiger politischer Verfolgung aus, so dass insoweit nicht etwa eine "Sicherheit" gegeben sein muss. Diese Wahrscheinlichkeit ist dann zu bejahen, wenn bei zusammenfassender Wertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für die Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und daher gegenüber den dagegen sprechenden Umständen auf der Grundlage einer Wertung überwiegen (BVerwG, DÖV 1993, 389; OVG Lüneburg, Urt. v. 26.8.1993 - 11 L 5666/92 -).

Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Menschenwürde- und Freiheitsrechten des Klägers ist hier auf der Grundlage einer entsprechenden Wertung gegeben.

2.1 Ausgangspunkt dabei ist, dass der neu angefügte Abs. 2 des § 28 AsylVfG die Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG nur ganz ausnahmsweise, nämlich dann zu sperren vermag, wenn ausnahmslos rein subjektive Nachfluchtgründe geltend gemacht werden. In allen anderen Fällen, vornehmlich schon dann, wenn subjektive und objektive Nachfluchtgründe nur miteinander verwoben sind, kommt der allgemeine Grundsatz des Art. 5 der gen. Richtlinie 2004/83/EG des Rates v. 29.4.2004 (Amtsblatt der EU v. 30.9.04 / L 304/12) zur Geltung. Denn die Regelung des AufenthG stellt sich als Ausnahme iSv Art. 5 Abs. 3 der gen Richtlinie 2004/83/EG dar und ist nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen eng auszulegen. Demzufolge ist auch die in § 28 Abs. 2 AufenthG enthaltene Regel eng auszulegen und jede von ihr abweichende Ausnahme - gemäß dem Grundsatz der gen. Richtlinie in Art. 5 - großzügig und weit.

Im Übrigen stellt es einen objektiven Nachfluchttatbestand dar, wenn sich die politische Einstellung des Heimatstaates gegenüber regimekritischen Betätigungen verändert (so BVerwG, EZAR 206 Nr. 4). Das gilt angesichts der gen. Richtlinie 2004/83/EG mit ihrer grundsätzlichen Anerkennung von Nachfluchtgründen in besonderem Maße, so dass geänderte Einstellungen und Verschärfungen bis hin zu Repressionen im Heimatstaat stets im Rahmen des § 28 Abs. 2 AufenthG als objektiver Nachfluchttatbestand heranziehbar und iSv § 60 Abs. 1 AufenthG bedrohungsrelevant sind.

2.2 Soweit die ablehnende Entscheidung des Bundesamtes darauf zurückgeht, dass die Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 51 VwVfG für ein Wiederaufgreifen nicht erfüllt seien, ist dem Kläger zuzubilligen, dass er entsprechende Gründe selbstverständlich auch noch während des gerichtlichen Verfahrens jederzeit nachschieben kann (und deshalb nicht etwa noch bei der Beklagten jeweils erneut gesonderte Folgeanträge zu stellen hätte). Denn das gerichtliche Verfahren ist für derartige Gründe offen, § 77 AsylVfG. Dabei sind einzelne Wiederaufnahmegründe wie auch Dauersachverhalte - z.B. die Mitgliedschaft in einer Organisation oder Verschärfungen im Heimatland - zwar innerhalb von 3 Monaten nach deren Eintritt oder Beginn geltend zu machen, bei Verschärfungen oder Neueinschätzungen 3 Monate nach einer entsprechenden Neubewertung. Sachverhalte aber, die sich als Fortsetzung rechtzeitig eingeführter Grundsachverhalte darstellen, sind nicht in der dargestellten Weise fristgebunden. Hier genügt es, wenn der Grundsachverhalt schon einmal fristgemäß vorgetragen wurde.

Bei der exilpolitischen Betätigung, die sich nicht auf einzelne "Aktionen" reduzieren lässt, die aber auch durch stets neue Entschlüsse "getragen" wird, genügt es, wenn sie anlässlich eines Entschlusses und einer Betätigung fristgerecht vorgetragen wurde.

2.2.2 Auch die Änderung der Rechtslage im Hinblick auf das ab dem 1.1.2005 geltende Zuwanderungsgesetz, aber auch hinsichtlich der Richtlinie 2004/83/EG des Jahres 2004, welche vom Kläger im Jahre 2001 naturgemäß noch nicht vorgetragen werden konnte, rechtfertigt eine Befassung mit dem Folgeantrag, da es sich insoweit um eine erhebliche Änderungen der Rechtslage iSv § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG handelt.

2.4. Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung - Mai 2005 - stellt sich die Sach- und Rechtslage gegenüber dem Zeitpunkt der bundesamtlichen Entscheidung so dar, dass sich die Verhältnisse in Vietnam verändert, nämlich deutlich verschärft haben. Weiterhin ist im Europäischen Raum zwischenzeitlich die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 in Kraft getreten (am 20. Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union, Art. 39 der Richtlinie), die im Amtsblatt der Europäischen Union vom 30. September 2004 (L 304/12) veröffentlicht worden ist (nachfolgend: Richtlinie). Außerdem ist im deutschen Recht das Zuwanderungsgesetz vom 30. Juli 2004 (BGBl. Teil I 2004, S. 1950) am 1. Januar 2005 in Kraft getreten.

2.4.1 Die genannte Richtlinie ist bereits anwendbar, obwohl die Frist zur Umsetzung in das nationale Recht noch nicht abgelaufen ist (dazu Hoffmann im Asylmagazin 4/2005):

"In einem Beschluss vom 29.12.2004 hatte der VGH Hessen sogar darüber hinausgehend und bezogen auf die sog. "Freizügigkeitsrichtlinie" nochmals ausdrücklich festgestellt, dass sich aus der Richtlinie bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist der gemeinschaftsrechtliche Stand der Freizügigkeitsrechte entnehmen ließe (VGH Hessen, Beschluss vom 29.12.2004 - 12 CG 3649/04 -)."

2.4.3 Die dem Kläger als einem fundamental "Andersdenkenden" bzw. Dissidenten bei einer Rückkehr nach Vietnam drohenden Maßnahmen der vietnamesischen Sicherheitskräfte haben als Objekt des in ihnen liegenden Verfolgungseingriffs primär allerdings nicht die bloße Religionsfreiheit (als forum internum) zum Gegenstand, sondern seine leibliche Unversehrtheit, seine physische Freiheit sowie seine Versammlungs- und Meinungsfreiheit sowie schließlich seine Freiheit, sich für die eigene Religion öffentlich auszusprechen und einzusetzen (Art. 10 Abs. 1 b der Richtlinie). Leib, Leben und persönliche Freiheit sind asylrechtlich ähnlich absolut geschützt wie nach allgemein menschenrechtlichen Normen (vgl. Art. 5 EMRK). Der Rechtscharakter als asyrelevante (Verfolgungs-) Maßnahme ergibt sich aus der Anknüpfung an die im Demonstrationsverhalten zu Tage getretenen abweichenden religiös-politischen Überzeugung des Klägers, deretwillen die Bedrohung und Verfolgung stattfindet. Die Unterscheidung zwischen einer Religionsausübung im internen und im externen Bereich ist weder für die Einstufung der Freiheitsentziehung und der Einschränkung der Versammlungs- und Meinungsfreiheit als Verfolgung noch als asylrelevante politische Maßnahme von Bedeutung. Darauf kommt es hier nicht an.

[...]der vietnamesische Staat ist mit seinen Organen gegenüber Religionsgemeinschaften und entsprechenden Organisationen einschließlich ihrer Anhänger bzw. Mitglieder nicht tolerant. Sämtliche Gesetze, die (allerdings nur) theoretisch eine Religionsfreiheit garantieren, stehen in Vietnam unter dem Vorbehalt, dass die Freiheit nicht dazu missbraucht werden dürfe, den oft unbestimmt gehaltenen Gesetzen und der Politik Vietnams - einer Diktatur - zuwiderzuhandeln. Derartige Klauseln einschließlich ihrer politisch motivierten Auslegung stellen von jeglicher Gesetzesbindung frei und erlauben in der tagtäglichen Praxis eine "weitgehende Einschränkung" des entsprd. Rechts auf Religionsfreiheit (AA Lagebericht v. 12.2.2005). Politisches, soziales oder sonstiges Engagement ist den Religionsgemeinschaften daher strikt untersagt und wird staatlich verfolgt.

Der Kläger wird im Hinblick auf sein Demonstrationsverhalten in Vergangenheit und Gegenwart wie im Übrigen auch durch seine Asylantragstellung in Vietnam somit als aktiver Regimegegner, als Andersdenkender, als Dissident angesehen werden.

Denn politische Betätigung - ob nun im In- oder Ausland - wird in Vietnam nach wie vor regelmäßig verfolgt und hart bestraft.

2.4.5 Weiterer Anknüpfungspunkt für Verfolgungsmaßnahmen gegen den Kläger ist die Tatsache, dass es in Vietnam sog. "administrative Haftstrafen" auf der Grundlage der Regierungsverordnung Nr. 31-CP v. 14. April 1997 (Lagebericht d. Ausw. Amtes v. 26.2. 1999) gibt, für deren Verbüßung mittlerweile in nahezu jeder vietnamesischen Provinz ein zentrales Lager eingerichtet worden ist (vgl. Der Einzelentscheider-Brief v. Febr. 1999).

Die Gefahr einer Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG besteht dabei generell für Personen, die in Opposition zur gegenwärtigen Regierung und herrschenden Ideologie stehen und öffentlich Aktivitäten unternehmen bzw. (wie der Kläger) bereits unternommen haben - Aktivitäten, die gegen die Regierung und deren Linie, die Kommunistische Partei, die Einheit des Staates oder das internationale Ansehen Vietnams gerichtet sind. Im Falle eines auffälligen, inhaltlich regimekritischen, von der Parteidoktrin abweichenden Verhaltens kann die Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung - mit der erforderlichen Beachtlichkeit - ohne weiteres angenommen werden (vgl. dazu OVG Saarland, aaO.; vgl. die Äußerungen des vietn. Dissidenten Doan Viet Hoat lt. FR v. 6.2.1999; vgl die ai-Stellungnahme v. 2.2.1999).